Vor 80 Jahren, am 20. November 1945, begann in Nürnberg der erste Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts. Bis auf den heutigen Tag haben die Nürnberger Prozesse wegweisende Maßstäbe gesetzt und das Völkerrecht entscheidend mitgeprägt.
Die Prozesse tragen den Namen der Stadt, die Adolf Hitler 1933 zur „Stadt der Reichsparteitage“ ernannte. Hier wurden im September 1935 die antisemitischen „Nürnberger Gesetze“ verabschiedet, die den Rassismus der Nazis zur Staatsdoktrin erhoben und jüdische Bürger grausam entrechteten. Nach dem Zusammenbruch und der Niederlage des deutschen Faschismus wählten die vier Siegermächte, hauptsächlich die USA, die in Bayern das Sagen hatten, den Nürnberger Justizpalast als Standort für die Prozesse.
In seiner Einführungsrede betonte der amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson am 21. November 1945: „Die Untaten, die wir zu beurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben.“
Er fügte hinzu: „Wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden.“
Im Schwurgerichtssaal 600 des Justizpalastes Nürnberg wurden die wichtigsten Kriegsverbrecher des Nazi-Regimes und Verbrecher gegen die Menschlichkeit angeklagt und verurteilt. Hier saßen 22 der höchsten NS-Politiker und -Militärs auf der Anklagebank, hier wurden sie erstmals persönlich für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Unter ihnen waren:
- Hermann Göring, „Reichsmarschall“ und zweiter Mann nach Hitler im NS-Staat
- Rudolf Hess, Stellvertreter des Führers
- Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop
- Wilhelm Keitel, Oberkommandierender der Wehrmacht
- Ernst Kaltenbrunner, Chef der Sicherheitspolizei und des SD
- Hans Frank, sadistischer Befehlshaber des „Generalgouvernements“ (des besetzten Polens)
- Fritz Sauckel, Verantwortlicher für die Massendeportationen von Zwangsarbeitern
- Alfred Rosenberg, Parteiideologe und Reichsminister für die Ostgebiete
- Julius Streicher, Herausgeber des Stürmer, des nationalsozialistischen Hetzblattes
Der erste Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, dem weitere Prozesse folgen sollten, dauerte bis zum 1. Oktober 1946 und endete mit zwölf Todesurteilen und sieben langjährigen, teils lebenslangen Haftstrafen. Zehn Verurteilte wurden hingerichtet, während Göring sich kurz zuvor dem Strang durch Suizid entzogen hatte. Martin Bormann, ebenfalls zum Tod verurteilter Leiter von Hitlers Reichskanzlei, war nach seiner Flucht verschollen (wie man heute weiß, hatte er sich in Berlin das Leben genommen).
Auch Hitler, Goebbels und Himmler hatten sich durch Suizid entzogen und konnten nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Es fehlten auch zwei weitere, ursprünglich angeklagte NS-Verbrecher: der Führer der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, und der Stahl- und Rüstungsbaron Gustav Krupp von Bohlen und Halbach. Ley beging unmittelbar vor Prozessbeginn Selbstmord, Krupp war verhandlungsunfähig.
Der Prozess im Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes erregte die Aufmerksamkeit der ganzen Welt. Über 300 Journalisten und Journalistinnen wohnten ihm bei. Es war der erste Prozess, bei dem mit damals modernen Mitteln simultan ins Englische, Französische, Russische und Deutsche übersetzt bzw. gedolmetscht wurde.
An all dies erinnert heute eine Dauerausstellung im Justizpalast. Sie dokumentiert zudem die zwölf Nachfolgeprozesse, in denen sich Ärzte, Juristen, Wirtschaftsführer wie Krupp, Flick, die IG-Farben-Chefs, die Südost-Generäle und andere verantworten mussten, sowie den Tokio-Prozess zu den japanischen Kriegsverbrechen in Asien. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die meisten verurteilten Nazi-Verbrecher in den 1950er Jahren wieder freigelassen wurden und in der BRD ihre Karriere in Politik, Justiz oder Wirtschaft wiederaufnehmen und ungestört ausbauen konnten.
Die Nürnberger Prozesse setzten neue Maßstäbe, die in der Nachkriegszeit für das Völkerrecht wegweisend wurden und die UN-Charta maßgeblich mitbestimmen. So wurde das Völkerrecht, das die Bestrafung von „Kriegsverbrechen“ vorsah, in Nürnberg um folgende Anklagepunkte erweitert: „Verbrechen gegen den Frieden“, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Verschwörung zur Begehung der genannten Verbrechen“. Dies hatten Vertreter der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs im Londoner Statut vom 8. August 1945 festgelegt.
Nach den Urteilen in Nürnberg gingen diese Straftatbestände im Juli 1950 in die „Nürnberger Prinzipien“ der UN-Völkerrechtskommission ein. Sie haben bis heute große historische Bedeutung – auch wenn sie nie vollständig verwirklicht wurden. Gerade heute werden diese Prinzipien immer offener mit Füßen getreten.
80 Jahre nach Beginn der Nürnberger Prozesse sind Krieg und Faschismus weltweit wieder auf dem Vormarsch. Erneut werden wir Zeuge, wie imperialistische Regierungspolitiker ungestraft und ungehindert Angriffskriege und Massaker vorbereiten und durchführen. Im Nahen Osten findet mit Unterstützung des amerikanischen und des deutschen Imperialismus erneut ein Völkermord statt, um die Palästinenser zu eliminieren.
Schon von Anfang an hatten die Urteile und Prinzipien der Nürnberger Prozesse einen schweren Stand. Sie fielen in die Zeit des beginnenden Kalten Krieges und wurden in den Nachkriegsjahren kaum beachtet. So gab es kein internationales Tribunal zu den amerikanischen und französischen Kriegsverbrechen in Vietnam und Algerien.
Erst in den 1990er Jahren griff die UN einige Punkte der Nürnberger Prinzipien auf. Mit dem Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien 1993 und einem weiteren für Ruanda 1994 richtete sie diese allerdings gegen untergeordnete Regime und lokale autokratische Herrscher. Dies trifft auch auf den von der UN unabhängigen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zu, der auf der Grundlage des Römischen Statuts von 1998 errichtet wurde. Staaten wie die USA, Russland, Indien, China oder Israel haben ihn nie anerkannt.
„Verbrechen gegen den Frieden“? – Diese werden seit 35 Jahren, seit dem Niedergang der Sowjetunion, immer blutiger und unverhüllter geführt. Seit dem ersten Golfkrieg 1990/91 haben sich die USA, die Nato und auch Deutschland an Kriegen in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien beteiligt. Mittlerweile bereitet sich die deutsche Regierung aktiv und intensiv auf einen offenen Krieg gegen Russland vor. Der Stellvertreterkrieg in der Ukraine, die Kriegsvorbereitungen gegen Russland und China drohen zu einer atomaren Katastrophe zu eskalieren.
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“? – Israelische Streitkräfte haben den Gazastreifen in eine unbewohnbare Trümmerwüste verwandelt, nachdem sie mindestens 100.000 Palästinenser, darunter zehntausende Kinder, getötet haben. Mit Unterstützung der USA und Deutschlands ist die zionistische Regierung dabei, die „Endlösung“ der Palästinenserfrage durchzusetzen, als hätte es nie einen Holocaust gegeben.
Genau vor einem Jahr, im November 2024, hat der Internationale Strafgerichtshof offiziell Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant erlassen. Die Anklagepunkte sind Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In den USA und in Israel hat diese Entscheidung nur Spott und Drohungen gegen Den Haag ausgelöst. Und Bundeskanzler Friedrich Merz hat Netanjahu ausdrücklich nach Deutschland eingeladen und ihm Straffreiheit und Schutz zugesichert.
Im Nürnberger Justizpalast erinnert die Ausstellung „Memorium“ an den Hauptkriegsverbrecherprozess und erweckt ihn mit originalen Filmdokumenten wieder zum Leben. Sie geht durchaus auch auf die jüngere Vergangenheit, zum Beispiel auf Kriegsverbrechen in Ruanda oder Jugoslawien, ein. Doch diese aktuelleren Bezüge sind von einer pro-Nato-Propaganda geprägt. Die Dokumentation zeigt Social-Media-Posts über den Ukrainekrieg, um Russland anzuprangern, verliert aber kein Wort über die aggressive Kriegspolitik der Nato und die Verbrechen der israelischen Regierung an den Palästinensern.
Auch die Nürnberger Stadtregierung hat sich entschieden, den Prinzipien der Nürnberger Prozesse den Rücken zu kehren. Während der Linken Literaturmesse Nürnberg hat die Stadt versucht, die Buchvorstellung des Mehring-Verlags mit dem Titel „Der Völkermord im Gaza und die Gefahr eines dritten Weltkriegs“ zu verbieten. Nur 30 Stunden vor Messebeginn forderte sie die Messeleitung auf, die Beschreibung der Veranstaltung zu ändern, und drohte, ansonsten von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen. Auch die Plakate mit dem Veranstaltungstext wurden unter Androhung eines Verbots der Veranstaltung aus dem Gebäude verbannt.
Die Stadt beanstandete einen einladenden Text, der den Völkermord in Gaza als solchen bezeichnete und in dem es hieß, dass die Bundesregierung an „blutigen Kriegsverbrechen“ beteiligt sei. Nach Ansicht der Stadt war dies gesetzeswidrig. Unter anderem begründete sie ihre Zensur damit, dass die Bezeichnung des israelischen Vorgehens in Gaza als „Völkermord“ historische Verbrechen relativieren würde.
Dazu erklärte Peter Schwarz während seines Vortrags am 2. November 2024 auf der Literaturmesse:
Die Stadt geht nicht auf die Frage ein, ob das israelische Vorgehen gegen die Palästinenser den Tatbestand des Völkermords erfüllt. Sie ignoriert die Fakten, die juristischen Gutachten, die Stellungnahmen namhafter Menschenrechtsorganisationen und internationaler Institutionen, die dies nachweisen. Stattdessen erklärt sie, man dürfe diese Frage gar nicht stellen – geschweige denn beantworten –, weil sie den Holocaust relativiere. Das stellt die Bedeutung der Nürnberger Prozesse auf den Kopf.
Sie sollten dafür sorgen, dass nie wieder Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen werden – oder dass die Verantwortlichen für solche Verbrechen mit harten Strafen rechnen müssen. Nun erklärt die Stadt Nürnberg, man dürfe solche Verbrechen nicht beim Namen nennen und anklagen, weil sonst die Verbrechen der Nazis relativiert würden. Aus einer Waffe gegen Kriegsverbrechen verwandelt sie die Nürnberger Prozesse so in eine generelle Amnestie für sie. Man darf ein Verbrechen nicht mehr Verbrechen nennen, weil man damit ein anderes Verbrechen relativiert.
Der Zensurversuch konnte verhindert werden. Der Mehring-Verlag und die trotzkistische Jugendorganisation IYSSE wandten sich sowohl an die vor Ort vertretenen Buchverlage als auch an Berufsschulen, Universitäten und Arbeiterviertel der Stadt. Sie konnten erreichen, dass der Saal schließlich übervoll war und viele Teilnehmer noch auf dem Boden sitzen mussten. Es war eine der größten Veranstaltung der gesamten Messe, und die Resonanz war überwältigend.
Dies zeigt zweierlei: Erstens sind die Prinzipien der Nürnberger Prozesse in der Bevölkerung auch heute noch lebendig. Und zweitens ist es notwendig, die Arbeiterklasse für ihre Verwirklichung zu gewinnen und zu mobilisieren, da die etablierten Parteien und bürgerlichen Schichten, die heute das Sagen haben, sie längst aufgegeben haben.
