Im Jahr 1938 verurteilte Leo Trotzki in seinem Artikel „Priester der Halbwahrheit“ diejenigen, die sich „von Halbgedanken und Halbgefühlen“ ernähren und „in Halbwahrheit leben, d. h. der schlimmsten Form von Lügen“.
Von diesem Standpunkt aus sollte man die Rede genauer untersuchen, die Senator Bernie Sanders aus Vermont bei der Großkundgebung in Washington D.C. im Rahmen der landesweiten „No Kings“-Proteste am 18. Oktober gehalten hat. Die wichtigsten Veranstalter der Kundgebung, darunter Indivisible und MoveOn.org, sind Anhängsel der Demokratischen Partei. Sie haben die Demonstrationen organisiert, um Dampf abzulassen und den Widerstand der Massen gegen Trump wieder zurück in die Bahnen der Demokratischen Partei zu lenken, dem Friedhof der sozialen Bewegungen.
Die Organisatoren waren beunruhigt über das Ausmaß des Widerstands und die zunehmende Radikalisierung der Massen, die sich auch in einer wachsenden Abscheu gegenüber den Demokraten sowie einem gestiegenen Interesse an einer sozialistischen Alternative zeigt. Daher luden sie Sanders, der eigentlich auf einer kleineren Kundgebung in Vermont sprechen sollte, als Redner zur Hauptkundgebung in Washington ein, um die Bewegung besser politisch neutralisieren zu können.
Das ist seit Jahrzehnten Sanders’ Spezialität. Wenn die herrschende Klasse jemanden braucht, der die Arbeiter mit radikal klingenden Phrasen vom Kampf gegen den Kapitalismus abbringt und in die Sackgasse des Zweiparteiensystems und des Parlamentarismus lenkt, ist Bernie ihr Mann. Er ist der vollendete Demagoge.
Sanders’ perfide Rolle wird umso deutlicher, wenn man die aktuelle Politik betrachtet. Trump setzt die Gangster der Einwanderungs- und Zollbehörde ICE ein, um Arbeiterviertel zu terrorisieren, Immigranten und sogar US-Bürger zu entführen und in Konzentrationslager zu sperren. Er lässt trotz gerichtlicher Verbote Städte durch die Nationalgarde besetzen, brandmarkt alle Gegner als „Antifa-Terroristen“ und bereitet sich darauf vor, das Aufstandsgesetz (Insurrection Act) anzuwenden. Das würde ihn ermächtigen, auch reguläre Truppen im ganzen Land einzusetzen.
Sanders’ Rede in Washington folgte dem Muster seiner Standardreden: Er verurteilte Trumps „Autoritarismus“ (nicht Faschismus oder Diktatur) und die Macht der Wirtschaftsoligarchie, zählte die sozialen Übel auf – Ungleichheit, Armut, die Zerstörung des öffentlichen Bildungs-, Wohnungs- und Gesundheitswesens – und brachte eine entsprechende Liste sozialer Reformen. Von einer sozialen oder historischen Analyse keine Spur. Noch aufschlussreicher als das Gesagte ist das, was er nicht gesagt hat: Kapitalismus oder Sozialismus hat er mit keinem Wort erwähnt.
Ebenso wenig schlägt er eine Strategie vor, um die Entwicklung zur Diktatur aufzuhalten und Trump und die Oligarchie zu besiegen. Damit suggeriert er, dass Proteste und die Wahl der Demokraten ausreichen würden. Das ist eine fatale Illusion.
Sanders’ Selbstzensur ging soweit, dass er auch kein Wort darüber verlor, dass die Demokratische Partei auf Trumps Angriffe auf demokratische Rechte mit Schweigen und Komplizenschaft reagiert. Auch die Rolle des Gewerkschaftsapparats, der den Widerstand der Arbeiterklasse gegen Massenentlassungen und Sozialkürzungen unterdrückt, blieb außen vor. Die parteiübergreifende Unterstützung für den Völkermord in Gaza und die Forderung der Demokraten an Trump, den Krieg gegen Russland in der Ukraine zu eskalieren, wurden ebenfalls nicht erwähnt.
Natürlich gibt es krasse Widersprüche. Einerseits erklärt Sanders: „Ich spreche von einer Milliardärsklasse, die glaubt, sie habe das gottgegebene Recht zu herrschen, und die nicht nur massive Steuersenkungen für sich selbst will, sondern auch jede Form von Rechenschaftspflicht oder Kontrolle ihrer Macht ablehnt.“ Andererseits behauptet er jedoch, der Würgegriff der Oligarchie über die Gesellschaft könne gelöst werden, ohne einen revolutionären Kampf zur Enteignung ihrer Vermögen und ihres Eigentums zu führen.
Sanders erklärte z.B.: „Es geht um eine Handvoll der reichsten Menschen der Welt, die in ihrer unersättlichen Gier unsere Wirtschaft und unser politisches System gekapert haben, um sich auf Kosten arbeitender Familien im ganzen Land zu bereichern.“
Laut Sanders haben also die Oligarchen die Wirtschaft und das politische System „gekapert“, die ansonsten – und vermutlich zu einem früheren Zeitpunkt – ein Vorbild an Gleichheit und Demokratie waren. Dieser Mythos zielt darauf ab, die oligarchische Herrschaft von dem kapitalistischen System zu trennen, das sie hervorbringt.
Im Jahr 1950, mitten in der Zeit der „Großen Kompression“ nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Einkommensungleichheit zurückging, kontrollierte das oberste ein Prozent in den USA noch immer ein Drittel des nationalen Vermögens, die obersten 0,1 Prozent kontrollierten zehn Prozent. Mit anderen Worten, allgegenwärtige Ungleichheit ist in der Struktur des Kapitalismus verankert, und die heutige Oligarchie ist ihr Produkt, nicht umgekehrt.
In seiner Rede appellierte Sanders in demagogischer Weise an die tief verwurzelte Verbundenheit der Amerikaner mit den demokratischen Traditionen der US-Geschichte. Er erklärte:
Im Laufe der Geschichte unseres Landes haben die Amerikaner immer gesiegt, wenn sie aufgestanden sind und für Gerechtigkeit gekämpft haben.
Als sich die Gründerväter gegen König Georg erhoben, wurde ihnen gesagt, es sei unmöglich. Aber sie siegten.
Als die Abolitionisten für ein Ende der Sklaverei kämpften, wurde ihnen gesagt, es sei unmöglich. Aber sie siegten.
Das waren natürlich Revolutionen, die die bestehende Ordnung gestürzt haben. Sanders führt sie jedoch an, um zu behaupten, dass sich demokratische Rechte allein durch Protest verteidigen lassen und dass eine soziale Revolution weder möglich noch wünschenswert sei.
Sanders entlarvte den machtlosen und bankrotten Charakter seiner Politik, als er an Trumps faschistische Komplizen in der Republikanischen Partei („meine republikanischen Kollegen“) appellierte, den Shutdown der Regierung zu beenden:
Heute sage ich meinen republikanischen Kollegen: Kommen Sie aus ihrem einmonatigen Urlaub zurück, beginnen Sie zu verhandeln und lassen Sie nicht zu, dass das amerikanische Gesundheitssystem zerstört wird. Beenden Sie diesen Shutdown.
Sanders Feindseligkeit gegenüber der Arbeiterklasse und sein unverhohlener Nationalismus zeigen sich deutlich in seiner Gleichgültigkeit und seinem völligen Schweigen über die brutale Verfolgung von Immigranten. Wie in allen seinen Kampagnenreden verzichtete Sanders auch in Washington auf Forderungen hinsichtlich der demokratischen Rechte von Immigranten.
Er forderte weder die Freilassung aller inhaftierten Immigranten noch die Rückführung aller Abgeschobenen, die in die USA zurückkehren wollen. Er forderte weder die Schließung der Konzentrationslager für Immigranten noch die Auflösung der ICE- und Grenzschutz-Gestapo. Er forderte weder das Ende der Razzien gegen Immigranten noch das Recht aller Arbeiter – ob mit oder ohne Papiere – dort zu leben und zu arbeiten, wo sie wollen, mit allen demokratischen Rechten.
Tatsächlich hat Sanders sogar öffentlich erklärt, dass er mit Trumps Ansichten über die notwendige „Sicherung der Grenze“ übereinstimmt. Im März hatte er während eines Interviews auf ABC News in der Sendung „This Week“ gegenüber Moderator Jonathan Karl erklärt, es gäbe „eine Sache, bei der ich mit Trump einer Meinung bin“ – dass die USA „illegale“ Immigration über die südliche Grenze eindämmen müssen.
So sieht die politische Niedertracht nicht nur von Sanders aus, sondern des gesamten Spektrums kleinbürgerlicher pseudolinker Organisationen wie den Democratic Socialists of America (DSA), die ihn und andere „Progressive“ der Demokratischen Partei wie Alexandria Ocasio-Cortez oder Zoran Mamdani propagieren. Die Arbeiterklasse muss die verkommene proimperialistische und prokapitalistische Politik dieser Kräfte bewusst zurückweisen, um mit den Demokraten zu brechen und eine sozialistische Massenbewegung für den Sturz Trumps und zur Verteidigung demokratischer Rechte aufzubauen.
