SPD und Union einigen sich auf Sozialabbau

Zehn Tage nachdem Bundeskanzler Friedrich Merz erklärt hat, Deutschland könne sich den Sozialstaat nicht mehr leisten, haben sich die Spitzen von Union und SPD auf einen massiven Abbau von Sozialleistungen geeinigt.

Präsident Macron und Bundeskanzler Merz beim deutsch-französischen Ministerrat in Toulon [Photo by Bundesregierung/Steffen Kugler]

Nach einem Treffen des Koalitionsausschusses am Mittwoch sagte Merz: „Wir haben uns hier wirklich gut verständigt, auch in der Zielsetzung, den Sozialstaat zu reformieren.“ Die Koalition werde noch in diesem Jahr die wichtigsten Eckpunkte für eine solche Reform vereinbaren. Das Bürgergeld werde durch eine neue Grundsicherung abgelöst, die „fördern und fordern“ und „den Missbrauch unter Kontrolle bringen“ werde.

Bereits vorher hatte Merz in mehreren Interviews angekündigt, er wolle beim Bürgergeld zehn Prozent der Kosten einsparen, was einer Größenordnung von fünf Milliarden Euro im Jahr entspreche. Dies müsse „die Mindestgrößenordnung“ sein. Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD), die Merz Angriff auf den Sozialstaat kurz vorher noch als „Bullshit“ bezeichnet hatte, stimmte zu. Sie sei mit dem Kanzler einer Meinung, dass der Sozialstaat reformbedürftig sei, sagte sie.

Finanzminister Lars Klingbeil, der die SPD gemeinsam mit Bas führt, lobte die berüchtigte Agenda 2010 des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD), der damit vor 22 Jahren eine gigantische soziale Umverteilung zugunsten der Reichen eingeleitet hatte. „Schröder hat mutige Reformen angepackt,“ sagt Klingbeil der Zeit. „Auch heute brauchen wir umfassende Reformen, damit unser Sozialstaat stark, aber auch bezahlbar bleibt und besser funktioniert.“

Schröder, der nur noch selten in der Öffentlichkeit auftritt, reagierte umgehend. „Ich finde das mutig von Lars Klingbeil“, sagte er der F.A.Z. Die SPD habe hoffentlich gemerkt, dass sich mutige Reformen auszahlten, auch wenn sie zunächst unpopulär erschienen.

Die Einsparungen beim Bürgergeld sind der Auftakt zu einem Frontalangriff auf soziale Errungenschaften, die über Jahrzehnte erkämpft wurden. Als nächstes sind die Renten und die Gesundheitsversorgung an der Reihe, bei denen es um viel höhere Summen geht. Union und SPD hatten bereits im Koalitionsvertrag vereinbart, zu diesem Zweck Expertenkommissionen einzusetzen. Sie sollen nun zeitnah Vorschläge erarbeiten.

Wirtschaftsverbände und wirtschaftsnahe Medien drängen auf einen radikalen Sozialabbau. Die F.A.Z. klagte am 1. September, „angefangen von den Fehlsteuerungen des Bürgergelds über das stets geförderte Anspruchsdenken bis hin zu den hohen Sozialabgaben“ erwürge der Sozialstaat das Wirtschaftswachstum. Nun heiße es, „sich in vielem zurückzuziehen und Liebgewordenes aufzugeben, damit die Wirtschaft wieder Fahrt aufnehmen kann“.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, schlägt die Einführung eines sozialen Jahres für Rentner vor. Schichtarbeiter, Verkäuferinnen, Angestellte und andere, die mehr als vier Jahrzehnte lang hart gearbeitet haben, sollen ein Jahr lang Bettpfannen leeren und andere unentgeltliche Arbeiten verrichten, bevor sie den wohlverdienten Ruhestand genießen können.

Der Vorschlag Fratzschers, der als DIW-Chef und Professor an der Berliner Humboldt-Universität mehrere hunderttausend Euro im Jahr verdienen dürfte, ist bizarr. Trotzdem wird er über alle Kanäle verbreitet, um Stimmung gegen alle zu schüren, die keinen wirtschaftlichen Profit abwerfen, aber trotzdem Anspruch auf ein anständiges Leben erheben.

Sozialabbau und Aufrüstung

Hinter dem Frontalangriff auf den Sozialstaat steckt mehr als das übliche Geschrei von Wirtschaftsvertretern und neoliberalen Ökonomen. Die kapitalistische Gesellschaft steckt in einer Sackgasse, aus der die imperialistischen Mächte keinen anderen Ausweg kennen als Sozialabbau, Diktatur und Krieg.

In den 1930er Jahren hatte eine Spirale von Rezession, Handelskrieg, Finanzkrise, Faschismus und Aufrüstung in den Zweiten Weltkrieg geführt. Heute entwickelt sich wieder eine ähnliche Katastrophe.

Die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus hat endgültig die Illusion zerstört, es könne so etwas wie einen friedlichen globalen Kapitalismus geben. 1940, nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, hatte die Vierte Internationale an die Aussage Lenins erinnert, dass imperialistische Kriege unvermeidlich seien, solange der Kapitalismus nicht gestürzt werde. Sie erklärte:

Der jetzige Krieg – der zweite imperialistische Krieg – ist kein Zufall, er rührt nicht aus dem freien Willen dieses oder jenes Diktators her. Er wurde lange vorausgesagt. Er folgte unerbittlich aus den Widersprüchen der internationalen kapitalistischen Interessen.[1]

Diese Warnung bestätigt sich heute erneut. Trump ist dabei nicht die Ursache, sondern ein Symptom. Er reagiert auf den Niedergang des amerikanischen Kapitalismus, indem er dem Rest der Welt den Krieg erklärt, Rivalen und Verbündete mit Strafzöllen überzieht, die US-Militärausgaben auf die schwindelerregende Höhe von einer Billion Dollar treibt und in den USA eine Diktatur errichtet. Darin besteht der wesentliche Inhalt seiner „Make America Great Again“-Politik.

Die europäischen Mächte gehen denselben Weg. Unter den demokratischen US-Präsidenten Obama und Biden hatten sie sich in der Hoffnung auf reiche Beute begeistert der Nato-Offensive gegen Russland angeschlossen. Nun sind sie von Trump auf dem falschen Fuß erwischt worden. Er belegt sie mit Strafzöllen, droht, sich auf ihre Kosten mit Russland zu einigen, und zwingt sie, die gesamte Last des kostspieligen Kriegs in der Ukraine zu tragen. Washington liefert nur noch Waffen nach Kiew, wenn Europa die Rechnung bezahlt.

Doch die europäischen Mächte sind nicht bereit, ihre eigenen imperialistischen Ambitionen den amerikanischen unterzuordnen. Deshalb rüsten sie nach Kräften auf. 2024 steigerten die 27 EU-Mitglieder ihre Militärausgaben um 19 Prozent auf 343 Milliarden Euro. In diesem Jahr sollen es 381 Milliarden werden, von denen 130 Milliarden in Investitionen für neue Waffen fließen. Das ist bei weitem nicht das Ende. Um die Nato-Ziele zu erreichen, brauche es „noch größere Anstrengungen und Ausgaben von insgesamt über 630 Milliarden Euro pro Jahr“, sagte der Generalsekretär der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA), André Denk.

Deutschland spielt bei dieser Rüstungsoffensive die Vorreiterrolle. Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte bereits 2024 das Ziel ausgegeben, bis 2029 „kriegstüchtig“ zu sein, um einen Krieg gegen Russland führen zu können. Noch vor der Wahl der neuen Regierung hob der Bundestag dann die Schuldenbremse auf, um eine Billion Euro für Aufrüstung und kriegsrelevante Infrastruktur bereitzustellen.

Merz rechtfertigte dieses Abrücken von der Schuldenbremse kürzlich mit der Rettung der Nato angesichts des Rückzugs der USA. „Wenn wir das Grundgesetz nicht geändert hätten, dann wäre diese Nato wahrscheinlich an diesem Tag auseinandergefallen,“ sagte er im ZDF-Sommerinterview.

In seiner ersten Regierungserklärung im Bundestag verkündete Merz das Ziel, Europa militärisch zu dominieren. Er versprach, er werde „der Bundeswehr alle finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, die sie braucht, um konventionell zur stärksten Armee Europas zu werden“. Dies sei „dem bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Land Europas mehr als angemessen“.

Auch der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), machte deutlich, dass es bei der Aufrüstung nicht um Verteidigung, sondern um imperialistische Interessen – um Absatzmärkte, Rohstoffe und Profite – geht.

Auf die Frage, weshalb die EU beim Zoll-Abkommen mit den USA nachgegeben habe, antwortete Weber, aufgrund ihrer militärischen Unterlegenheit hätten die Europäer keine Wahl gehabt: „Weil Europa gegenüber Trump in Sachen Verteidigung die Abhängigkeiten gespürt hat, konnten wir bei den Handelsverträgen nicht stark genug auftreten und sagen: Wir sind gegenüber den USA ein gleichwertig starker wirtschaftlicher Player auf der Welt.“

Nach zwei verlorenen Weltkriegen greift der deutsche Militarismus nach der Weltmacht, und er ist dafür zu jedem Risiko bereit. Er richtet seine militärischen Expansionspläne erneut Richtung Osten und nimmt bewusst die Gefahr eines russischen Gegenangriffs in Kauf. Dabei würde ein Bruchteil des russischen Nuklearwaffenarsenals, das 4000 bis 6000 Sprengköpfe umfasst, ausreichen, um alle urbanen Zentren, Militärstandorte und die industrielle Infrastruktur Deutschlands komplett zu zerstören.

Frontalangriff auf die Arbeiterklasse

Das gewaltige Aufrüstungs- und Kriegsprogramm, das die Merz-Regierung in Gang gesetzt hat, lässt sich nur durch die vollständige Zerschlagung der sozialen Errungenschaften und demokratischen Rechte der Arbeiterklasse verwirklichen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ein großer Teil der Militärausgaben durch zusätzliche Schulden gedeckt wird.

Die Haushaltsplanung von Finanzminister Klingbeil spricht eine deutliche Sprache. Die Verteidigungsausgaben steigen von 86,5 Milliarden Euro im laufenden Jahr auf 168 Milliarden im Jahr 2029, die dann voll aus dem laufenden Haushalt bestritten werden.

Obwohl Klingbeil bis 2029 zusätzliche Schulden in Höhe von 847 Milliarden Euro einplant, klafft allein für die Jahre 2027 bis 2029 eine Finanzierungslücke von 172 Milliarden Euro, also von fast 60 Milliarden Euro pro Jahr. Da die Ausgaben für Innere Sicherheit und den Schuldendienst ebenfalls steigen und die Bundesregierung Steuererhöhungen für die Reichen kategorisch ausschließt, kann der Fehlbedarf nur durch Kürzungen der Sozialausgaben gedeckt werden, die derzeit rund 40 Prozent des Gesamthaushalts ausmachen.

„Wir werden der Bevölkerung vermitteln müssen, warum wir trotz der hohen Investitionen in die Verteidigung und in die Infrastruktur erheblichen Konsolidierungsbedarf in den öffentlichen Haushalten haben“, kommentierte dies Merz nach dem Koalitionsgipfel.

Die Haushaltskrise wird dabei noch durch weitere Faktoren vertieft. Da die deutsche Wirtschaft seit der Coronakrise im Jahr 2020 stagniert, bleiben die Steuereinnahmen immer weiter hinter den Erwartungen zurück. Und die Einfuhrzölle von 15 Prozent, die die USA seit dem 7. August auf alle Waren aus der EU erheben, während US-Importe in die EU steuerfrei bleiben, haben die Wirtschaftsflaute weiter verschärft.

Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Zoll-Deal mit Trump auf einem schottischen Golfplatz vereinbarte, kochte in deutschen Unternehmerkreisen die Empörung hoch. Von „Unterwerfung“ und „Appeasement“ war die Rede. Ex-VW-Chef Herbert Diess bezeichnete den Deal als „Armutszeugnis“ für „eine Garde naiver, nostalgisch verklärter Transatlantiker“.

Von der Leyen rechtfertigte das Abkommen damit, dass trotz erheblicher Nachteile Planungssicherheit und Verlässlichkeit bestehe. Doch selbst das erwies sich als Trugschluss. Inzwischen werden Stahl und Aluminium, die in europäischen Autos und Maschinen verbaut sind, extra berechnet und mit dem höheren Satz von 50 Prozent verzollt. Der deutsche Maschinenbau, eine der wichtigsten Exportbranchen, verliert dadurch deutlich an Wettbewerbsfähigkeit. Die neue Volte aus Washington zeige, „dass Vereinbarungen mit Trump das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben werden,“ wetterte die Wirtschaftswoche.

Die deutsche Auto- und Zulieferindustrie befindet sich ohnehin im freien Fall. Hier wurden innerhalb eines Jahres 51.500 Stellen abgebaut, und der Kahlschlag geht ungebremst weiter. Alle großen Auto- und Zulieferbetriebe haben den Abbau tausender Arbeitsplätze angekündigt, und kleinere gehen serienweise pleite. Einer Studie der Beratungsgesellschaft EY zufolge sank die Zahl der Industriearbeitsplätze in Deutschland seit 2019 um eine Viertelmillion. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen hat erstmals seit vielen Jahren wieder die 3-Millionen-Grenze überschritten. Das Defizit der Sozialkassen erhöht sich dadurch weiter.

Politische Krise in Frankreich

In anderen europäischen Ländern ist die Krise noch explosiver. Das gilt insbesondere für Frankreich, das aufgrund der hohen Staatsverschuldung von 114 Prozent kaum mehr Spielraum für weitere Schulden hat, ohne eine Finanzkrise zu riskieren.

Nachdem Präsident Macron die Erhöhung des Militärhaushalts auf 64 Milliarden Euro von 2030 auf 2027 vorgezogen hat, plant Ministerpräsident Bayrou für das kommende Jahr Haushaltskürzungen von 44 Milliarden Euro, die vor allem bei den Sozialausgaben eingespart werden sollen. Dagegen entwickelt sich massiver Widerstand. In den kommenden Tagen sind landesweite Blockaden und Streiks geplant.

Da Bayrou im Parlament über keine Mehrheit verfügt, hat er die Verabschiedung des Sparhaushalts mit der Vertrauensfrage verbunden – die er aller Voraussicht nach verlieren wird. Frankreich steht dann inmitten heftiger sozialer Konflikte ohne Regierung da.

Berlin und Paris arbeiten eng zusammen, um die Kriegspolitik und die damit verbundenen Angriffe auf die Arbeiterklasse durchzusetzen. Für den letzten deutsch-französischen Ministerrat, der im August in Toulon tagte, hatten die beiden Regierungen führende Ökonomen beauftragt, Reformvorschläge zu erarbeiten. Sie legten einen Katalog sozialer Grausamkeiten vor.

Auch wenn sich gegenwärtig weder die Parteien der Neuen Volksfront (NFP) noch das rechtsextreme Rassemblement National (RN) in der Lage sehen, Bayrous verhasstem Sparhaushalt zur Mehrheit zu verhelfen, arbeiten alle – einschließlich der Gewerkschaften – daran, die Bewegung zu sabotieren oder in die Irre zu führen. Wenn die Regierung Bayrou nicht zu halten ist, soll wenigstens das Überleben der kapitalistischen Herrschaft gesichert werden. Das gilt auch für La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon, der zwar die Proteste wortradikal unterstützt, aber eine sozialistische Perspektive zum Sturz des Kapitalismus ablehnt.

RN-Chef Jordan Bardella hat einen Brief an die Chefs großer Unternehmen geschrieben, in dem er sich als neuer Regierungschef anbietet und Haushaltskürzungen von 100 Milliarden Euro verspricht.

Auch in Deutschland strecken führende Vertreter der CDU – wie Jens Spahn und Julia Klöckner – längst ihre Fühler in Richtung AfD aus, um mit den Rechtextremen zusammenzuarbeiten, falls die Merz-Klingbeil-Regierung unter dem Druck wachsenden Widerstands zusammenbricht. Wie in den USA, wo Trump dabei ist, eine Diktatur zu errichten, lassen sich Aufrüstung, Krieg, die Bereicherung der Superreichen und die damit verbundenen Angriffe auf die Arbeiterklasse nur mit faschistischen Methoden verwirklichen.

Die Kämpfe gegen Aufrüstung, Krieg, Sozialabbau, Ungleichheit und Faschismus sind daher untrennbar miteinander verbunden. Sie erfordern die unabhängige Mobilisierung und die internationale Einheit der Arbeiterklasse im Kampf für ein sozialistisches Programm.

Wir begrüßen den Widerstand französischer Arbeiter und Jugendlicher gegen Bayrou und Macron und rufen Arbeiter in Deutschland auf, sich mit ihnen zu solidarisieren und es ihnen gleichzutun. Aber dieser Widerstand kann nur erfolgreich sein, wenn er sich vom Einfluss der Neuen Volksfront und den Gewerkschaften löst, sich auf unabhängige Aktionskomitees stützt und für eine Arbeiterregierung und Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa kämpft.


[1]

Manifest der Vierten Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution, in Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 213

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