Mit seiner Ankündigung, am 8. September im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen, hat der französische Premierminister François Bayrou die Karten auf den Tisch gelegt. Die politische Krise in Frankreich und ganz Europa lässt sich nun nicht mehr vertuschen. Bayrous Minderheitsregierung wird die Abstimmung voraussichtlich nicht überstehen, und falls es zu Neuwahlen kommt, dürften diese in einem Patt enden.
Was sich anbahnt, ist ein unversöhnlicher Konflikt zwischen der Arbeiterklasse und der kapitalistischen Oligarchie, die ihren Kriegskurs durch harte Sozialkürzungen finanzieren will. Ähnlich wie in Deutschland, wo Bundeskanzler Merz 1 Billion Euro für Aufrüstung veranschlagt und den Sozialstaat für nicht mehr finanzierbar erklärt hat, strebt Bayrou eine Verdreifachung der Militärausgaben an. Dafür sollen Sozialausgaben in Höhe von 44 Milliarden Euro gestrichen und zwei Feiertage abgeschafft werden.
Die Politik von Sozialkahlschlag und Militarisierung, die in ganz Europa betrieben wird, stößt in der Bevölkerung auf enormen Widerstand. Umfragen zufolge lehnen 84 Prozent der Franzosen Bayrous Haushaltspläne ab. Mehr als zwei Drittel der Befragten wollen, dass sowohl Premier Bayrou als auch Präsident Emmanuel Macron (der „Präsident der Reichen“) abgesetzt werden.
Für den 10. September ist ein eintägiger landesweiter Protesttag geplant. In zahlreichen Branchen werden die Beschäftigten die Arbeit niederlegen, z.B. bei der Eisenbahn, im öffentlichen Nahverkehr und bei den Taxifahrern, bei Energieversorgern und im Gesundheitswesen. Auch in Apotheken und vor allem in großen Handels- und Supermarktketten stehen Streik- und Schließungsaktionen bevor. Die Aktion läuft unter dem Motto „bloquons tous“ – „Lasst uns alles blockieren“.
Die Möglichkeit eines Generalstreiks, wie es ihn im Mai 1968 gegeben hat, ergibt sich aus der ganzen politischen Situation und liegt in der Luft. Doch ein solcher Klassenkampf – für den der eintägige landesweite Proteststreik nur die Generalprobe wäre – muss erkämpft werden. Die Arbeiterklasse muss politisch vorbereitet sein. Sie muss verstehen, welche Aufgaben ihr der Kampf stellt, der sich jetzt international zu entwickeln beginnt. Und sie muss das Hindernis in Form der Bürokratien überwinden, die versuchen, den Klassenkampf zu verschleppen und zu sabotieren.
In Frankreich besteht dieses Hindernis vor allem aus dem Bündnis, das sich Nouveau front populaire nennt (NFP, Neue Volkfront). Es besteht aus La France insoumise (LFI, Unbeugsames Frankreich) unter der Führung von Jean-Luc Mélenchon, der großbürgerlichen Sozialistischen Partei (PS), Les Verts (Die Grünen) und der stalinistischen Parti communiste français (PCF).
Die Forderung, das Wirtschaftsleben lahmzulegen, wird von den Gewerkschaftsbürokratien abgelehnt. Der größte Gewerkschaftsdachverband CFDT erklärte, dies sei „nicht unsere Methode“, und die etwas kleinere CGT sprach von „nebulösen“ Forderungen. Mélenchon, der bekannte Führer der LFI, hat sich dem Aufruf zur eintägigen „Blockade“ am 10. September angeschlossen. Außerdem hat er angekündigt, am 23. September im Parlament auch ein Amtsenthebungsverfahren gegen Staatspräsident Macron zu beantragen.
Allerdings kann es keine nationale Lösung für diese Krise geben, und die Arbeiter müssen sich kleinbürgerlichen Parteien wie der LFI widersetzen, die versuchen, den Klassenkampf parlamentarischen Manövern unterzuordnen. Die Aufgabe der Arbeiter besteht nicht darin, eine neue kapitalistische Regierung zu wählen. Es geht vielmehr darum, einer kapitalistischen Oligarchie, die sich Hals über Kopf in Krieg, Völkermord und Diktatur stürzt, die Macht aus den Händen zu nehmen.
Die Haushaltskrise wurzelt in Klassengegensätzen
Die Haushaltskrise kann nicht durch die Wahl einer neuen kapitalistischen Regierung gelöst werden. Eine solche Regierung würde unweigerlich versuchen, die Politik von Bayrou in ihren Grundzügen fortzusetzen. Die Frage stellt sich als schroffe Alternative: Entweder die Arbeiter stoppen die Kriege und die militärische Aufrüstung durch einen direkten Angriff auf das kapitalistische Eigentum, oder sie werden in Armut und Elend gestürzt.
Bayrous will mit den geplanten Kürzungen die Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) finanzieren. Auf dieses Niveau haben sich die europäischen Nato-Mächte – vor Hintergrund des Nato-Russland-Kriegs in der Ukraine und des Völkermords im Gazastreifen – mit Washington geeinigt. Durch die Haushaltskürzungen will die französische Regierung 100 Milliarden Euro pro Jahr für die Armee freisetzen. Außerdem will sie der Finanzwelt ihre Zuverlässigkeit beweisen und zeigen, dass der Staat seine Schulden zurückzahlen kann.
Die Arbeiter sind für diese Schulden nicht verantwortlich. Seit dem Börsen-Crash von 2008 ist die Verschuldung Frankreichs von 68 auf 115 Prozent des BIP angestiegen. Zwei Drittel dieses Anstiegs entfielen auf die Finanzierung von zwei (von vielen) Bankenrettungen in der Eurozone: einmal 2009, nach dem Wall-Street-Crash, und dann 2020, um zu Beginn der Coronapandemie eine Panik an den Finanzmärkten zu verhindern. Die Europäische Zentralbank legte damals gemeinsam mit den nationalen Zentralbanken umfangreiche Ankaufprogramm für Aktien und Anleihen auf, um die Wertpapiermärkte zu stützen und das Vermögen der Oligarchie aufzublähen.
Seit 2009 stagniert auch in Frankreich die wirtschaftliche Entwicklung und der Lebensstandard. Das Vermögen der 500 reichsten Franzosen jedoch ist nach jeder Bankenrettung regelrecht explodiert. Nach Angaben des Magazins Challenges hat es sich seit 2009 mehr als versechsfacht – von 194 auf 1,228 Milliarden Euro. Dieser obszöne Reichtum ist nicht mehr mit Demokratie vereinbar.
Von den 445 Milliarden Euro, die der französische Staat aus laufenden Einnahmen finanzieren müsste, entfallen nach offiziellen Angaben 25 Prozent auf die Renten, 20 Prozent auf das Gesundheitswesen, 15 Prozent auf das Bildungs- und andere Ministerien und 11 Prozent auf die Arbeitslosenversicherung und auf Sozialleistungen für Familien. Da sich die laufenden Einnahmen jedoch nur auf 330 Milliarden Euro belaufen, hat Frankreich ein massives Haushaltsdefizit, und die Banken drohen, dieses nicht länger zu finanzieren.
Da 71 Prozent des französischen Staatshaushalts in die oben aufgezählten Hauptposten fließen, gibt es nur eine Möglichkeit, 100 Milliarden Euro für die Kriegsmaschinerie und weitere 100 Milliarden Euro für den Schuldenabbau aufzubringen: die Zerschlagung des Sozialstaats. Das bedeutet zugleich die Errichtung eines diktatorischen Polizeistaats, um die gesellschaftliche Opposition zu zerschlagen. Umgekehrt muss die Arbeiterklasse das Diktat der kapitalistischen Oligarchie zerschlagen, um soziale und demokratische Rechte zu verteidigen und den Krieg zu beenden.
Der Weg vorwärts für die Arbeiterklasse
Aus den Kämpfen der letzten Jahre müssen politische Lehren gezogen werden. Im Kampf gegen die Erhöhung des Rentenalters streikten 2023 Millionen, und es kam zu heftigen Ausschreitungen wegen Macrons Kürzungen. Doch am Ende brachen die Gewerkschaften die Streiks ab, nachdem Macron seine Rentenreform per Dekret durchgesetzt hatte. Im Jahr 2024 stimmten Millionen für Mélenchon und brachten die NFP bei den Parlamentswahlen auf den ersten Platz, nur um zu erleben, dass Mélenchon im zweiten Wahlgang den Kandidaten Macrons unterstützte, sodass sich dieser gestützt auf eine Reihe schwacher Minderheitsregierungen an der Macht halten konnte.
Eine zentrale Lehre lautet: Der Klassenkampf muss aus dem Würgegriff der NFP-Bürokratien und der nationalistischen Perspektive, die den parlamentarischen Manövern Mélenchons zugrunde liegt, befreit werden.
Zu diesem Zweck müssen Aktionskomitees aufgebaut werden, die unabhängig von den Gewerkschaftsbürokratien und ihrem „sozialen Dialog“ mit dem Staat sind. Nur so können Kämpfe organisiert und koordiniert werden. Eine enorme Ausweitung des Klassenkampfs ist notwendig, um Bedingungen zu schaffen, unter denen sich ein Generalstreik und ein internationaler Kampf gegen Kapitalismus und imperialistischen Krieg entfalten kann.
Die Arbeiterklasse braucht eigene Forderungen, um eine solche politische Offensive zu starten. Die Parti de l'égalité socialiste stellt die folgenden Forderungen auf:
Nein zum imperialistischen Krieg! Stoppt den Krieg mit Russland, Auflösung der Nato! Schluss mit der Aufrüstung!
Die Pläne der Nato für einen Krieg gegen Russland, die von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden, müssen gestoppt werden. Die Arbeiter müssen den Austritt Frankreichs aus der dem imperialistischen Nato-Bündnis fordern, das einen Atomkrieg anzuzetteln droht. Diese Austrittsforderung muss Teil eines internationalen Kampfs der Arbeiterklasse sein, die Nato aufzulösen und ihren Kriegen ein Ende zu setzen. Kein Cent darf in die Erhöhung der Militärausgaben fließen, um sich auf einen „Krieg hoher Intensität“ vorzubereiten – d.h. auf ein Massengemetzel wie das, das schon Hunderttausende von Ukrainern und Russen das Leben gekostet hat.
Stoppt den Völkermord in Gaza! Keine Verfolgung von Gegnern des Völkermords!
Die Arbeiter in Frankreich und weltweit müssen die Produktion und Lieferung von Waffen an das israelische Regime für den Völkermord in Gaza blockieren. Die strafrechtliche Verfolgung von Gegnern des Völkermords unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung oder des Antisemitismus muss aufhören. Die israelischen Regierungsvertreter, die für den Völkermord verantwortlich sind, sowie die Vertreter Frankreichs und der Nato, die diesen Völkermord unterstützen oder sich an ihm beteiligen, müssen vor Gericht gestellt werden.
Für den Sturz Macrons und die Abschaffung der Exekutivpräsidentschaft der Fünften Republik!
Macron regiert gegen das Volk, durch Polizeirepression und Massenverhaftungen von Streikenden und Demonstranten. Er muss von der Arbeiterklasse abgesetzt werden, aber seine Ersetzung durch einen anderen kapitalistischen Politiker würde die Angriffe auf demokratische Rechte nicht beenden. Die in der französischen Verfassung von 1958 verankerte Exekutivpräsidentschaft, der Dreh- und Angelpunkt polizeistaatlicher Repression und demokratiefeindlicher Machenschaften, muss abgeschafft werden.
Stoppt die Verfolgung von Flüchtlingen und Einwanderern! Für die internationale Einheit der Arbeiterklasse!
Der Kampf für die sozialistische Revolution ist untrennbar mit dem Kampf für die internationale Einheit der Arbeiterklasse verbunden. Leistet Widerstand gegen die Verfolgung von Einwanderern, gegen Massen-Internierungslager für Flüchtlinge und gegen demütigende Gesetze wie das Verbot muslimischer Kleidung in französischen Schulen! Nur so können die Versuche der Bourgeoisie und der kleinbürgerlichen Bürokratien durchkreuzt werden, die Arbeiter nach Nationalitäten zu spalten, um einen europaweiten Kampf gegen Krieg und Kapitalismus zu verhindern.
Beschlagnahmung der staatlichen Rettungsfonds, Enteignung der kapitalistischen Oligarchie!
Die Arbeiter müssen die Lüge zurückweisen, dass kein Geld für Sozialprogramme und Arbeitsplätze vorhanden ist. Die Billionen Euro öffentlicher Gelder, die sich die kapitalistische Oligarchie in Frankreich und ganz Europa unter den Nagel gerissen hat, müssen beschlagnahmt und zur Finanzierung von Arbeitsplätzen und Sozialprogrammen verwendet werden. Dies erfordert einen Kampf der Arbeiterklasse zur Enteignung der Oligarchie und zur Umwandlung der europäischen Großunternehmen in ein Netz öffentlicher Versorgungsbetriebe, die den Interessen der Bevölkerung dienen.
Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!
Die Arbeiter und Jugendlichen in Frankreich haben mächtige Verbündete in den Millionen von Arbeitern in ganz Europa und auf der ganzen Welt, die gegen Krieg, Faschismus, Völkermord und Austerität sind. Bürokraten und Parlamentarier werden sich dieser Einheit in den Weg stellen. Die Arbeiter müssen ihre eigenen Kampforganisationen und eine politische Bewegung aufbauen, um in Frankreich, ganz Europa und international die Macht an die Arbeiterklasse zu übertragen und die kapitalistische Europäische Union durch die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa zu ersetzen.