Manifest der Kommunistischen Internationale an das Proletariat der ganzen Welt

Die World Socialist Web Site veröffentlicht hier Leo Trotzkis »Manifest der Kommunistischen Internationale an das Proletariat der ganzen Welt«, das auf dem Ersten Kongress der Kommunistischen Internationale in Moskau vorgestellt und am 6. März 1919 in der Abschlusssitzung einstimmig angenommen wurde. Es wird auch im Band »Die Internationale vor Stalin: Die ersten fünf Jahre der Kommunistischen Internationale« abgedruckt, der 2026 in der Trotzki-Bibliothek des Mehring Verlags erscheint.

Leo Trotzki 1917

Wir veröffentlichen dieses Manifest als ergänzenden Text zum Vortrag von Christoph Vandreier auf der internationalen Sommerschulung der Socialist Equality Party (USA) 2025. In dieser Reihe werden wir weitere zentrale Schriften Leo Trotzkis sowie Dokumente des Internationalen Komitees der Vierten Internationale erneut veröffentlichen – insbesondere jene, die sich auf die Untersuchung »Sicherheit und die Vierte Internationale« beziehen.

Am Ersten Kongress der Kommunistischen Internationale nahmen 51 Delegierte aus ganz Europa und weiteren Ländern teil, davon 35 mit beschließender Stimme und 16 in beratender Funktion. Schwere Hindernisse – von der alliierten Blockade bis hin zu direkter Repression – verhinderten oder verzögerten die Teilnahme vieler Delegierter, darunter Vertreter aus Italien, Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten.

Im Verlauf mehrerer Tage debattierten die Delegierten über die Gründung der neuen Internationale, ihre programmatische Ausrichtung, den Kampf gegen die bürgerliche Demokratie und zentristische Tendenzen sowie die Reaktion auf den Imperialismus und die Entente-Mächte. Die zentralen Ergebnisse des Kongresses wurden in Trotzkis Manifest auf den Punkt gebracht, das die Ziele und Prinzipien der Kommunistischen Internationale festlegte.

Der russischen Delegation gehörten Lenin, Trotzki, Sinowjew, Bucharin und Tschitscherin an, sowie Worowski und Obolenski mit beratender Stimme. Stalin wird im offiziellen Protokoll ebenfalls als Delegierter gelistet, war aber beim Kongress nicht anwesend.

Manifest der Kommunistischen Internationale an das Proletariat der ganzen Welt

72 Jahre sind verflossen, seit die Kommunistische Partei der Welt ihr Programm in Form eines Manifestes, von den größten Lehrmeistern der proletarischen Revolution, Karl Marx und Friedrich Engels, geschrieben, verkündet hat. Schon damals war der Kommunismus, der gerade erst in die Arena des Kampfes eingetreten war, von Schikanen, Lügen, Hass und Verfolgung durch die herrschenden Klassen umgeben, die ihn zu Recht als ihren Todfeind betrachteten. Im Laufe dieser sieben Jahrzehnte ging die Entwicklung des Kommunismus schwere Wege: Stürme des Aufstiegs, aber auch Perioden des Niedergangs, Erfolge, aber auch harte Niederlagen. Im Grunde ging die Entwicklung doch den Weg, der ihr im »Manifest der Kommunistischen Partei« vorgezeigt war. Die Epoche des letzten, entscheidenden Gefechts ist später eingetreten, als die Apostel der sozialen Revolution es erwartet und gewünscht haben. Aber sie ist eingetreten. Wir Kommunisten, die Vertreter des revolutionären Proletariats verschiedener Länder Europas, Amerikas und Asiens, die wir uns in Sowjet-Moskau versammelt haben, fühlen und betrachten uns als Nachfolger und Vollbringer der Sache, deren Programm vor 72 Jahren verkündet wurde. Unsere Aufgabe besteht darin, die revolutionäre Erfahrung der Arbeiterklasse zusammenzufassen, die Bewegung von den zersetzenden Beimischungen des Opportunismus und Sozialpatriotismus zu reinigen, die Kräfte aller wirklich revolutionären Parteien des Weltproletariats zu sammeln und dadurch den Sieg der kommunistischen Revolution in der ganzen Welt zu erleichtern und zu beschleunigen.

Karl Marx und Friedrich Engels

Jetzt, da Europa mit Trümmern und rauchenden Ruinen bedeckt ist, sind die verruchtesten Brandstifter damit beschäftigt, die Schuldigen am Krieg zu suchen. Hinter ihnen stehen ihre Diener – Professoren, Parlamentarier, Journalisten, Sozialpatrioten und andere politische Zuhälter der Bourgeoisie.

Im Laufe einer langen Reihe von Jahren hat der Sozialismus die Unvermeidlichkeit des imperialistischen Krieges vorausgesagt, hat die Ursache dieses Krieges in der unersättlichen Habsucht der besitzenden Klassen beider Hauptlager und aller kapitalistischen Länder überhaupt erblickt. Zwei Jahre vor Kriegsausbruch haben die verantwortlichen sozialistischen Führer aller Länder auf dem Baseler Kongress den Imperialismus als Urheber des zukünftigen Krieges gebrandmarkt und haben der Bourgeoisie gedroht, sie durch die sozialistische Revolution – als Vergeltung des Proletariats für die Verbrechen des Militarismus – heimzusuchen. Jetzt, nach der Erfahrung der fünf Jahre, nachdem die Geschichte die räuberischen Gelüste Deutschlands aufgedeckt, die nicht weniger verbrecherischen Taten der Ententestaaten enthüllt hat, fahren die Staatssozialisten der Ententeländer fort, zusammen mit ihren Regierungen den Schuldigen des Krieges im gestürzten deutschen Kaiser zu entdecken. Noch mehr, die deutschen Sozialpatrioten, welche im August 1914 in dem diplomatischen Weißbuch der Hohenzollern das heiligste Evangelium der Völker erblickten, klagen jetzt in gemeiner Liebedienerei zusammen mit den Sozialisten der Ententeländer die gestürzte deutsche Monarchie, welcher sie früher wie Sklaven gedient haben, als Hauptschuldige an. Auf diese Weise hoffen sie, ihre eigene Schuld vergessen zu machen und das Wohlwollen der Sieger zu verdienen. Aber neben den gestürzten Dynastien der Romanow, Hohenzollern und Habsburger und den kapitalistischen Cliquen dieser Länder erscheinen die Regierenden Frankreichs, Englands, Italiens und der Vereinigten Staaten im Lichte der sich entwickelnden Ereignisse und der diplomatischen Enthüllungen in ihrer unermesslichen Niedertracht.

Die englische Diplomatie hat bis zum Augenblick der Entfachung des Krieges mit geheimnisvoll heruntergelassenem Visier dagestanden. Die Regierung der City hütete sich, ihre Absicht, auf Seite der Entente am Krieg teilzunehmen, unzweideutig kundzugeben, um die Berliner Regierung vom Krieg nicht abzuschrecken. In London wollte man den Krieg. Daher hat man sich dort so verhalten, dass Berlin und Wien zur selben Zeit auf die Neutralität Englands hofften, während man in Paris und Petrograd fest auf Englands Eingreifen baute.

Der von dem Gang der jahrzehntelangen Entwicklung vorbereitete Krieg wurde durch die direkte und bewusste Provokation Großbritanniens entfesselt. Die Regierung Englands wollte Russland und Frankreich nur so weit Unterstützung gewähren, bis sie sich völlig erschöpft hatten und auch gleichzeitig der Todfeind Deutschland lahmgelegt war. Aber die Macht der deutschen Militärmaschine erwies sich als zu gewaltig und verlangte nicht nur ein zum Schein unternommenes, sondern ein wirkliches Eingreifen Englands in den Krieg. Die Rolle des lachenden Dritten, die Großbritannien traditionell angestrebt hatte, fiel an die Vereinigten Staaten.

Mit der englischen Blockade, welche die Spekulationen der amerikanischen Börse mit dem Blut Europas einengte, hat sich die amerikanische Wilson-Regierung umso leichter abgefunden, als die Länder der Entente die amerikanische Bourgeoisie für die Verletzung des »internationalen Rechts« mit fetten Profiten entschädigten. Aber das ungeheure militärische Übergewicht Deutschlands hat die Regierung in Washington veranlasst, aus dem Zustand der scheinbaren Neutralität herauszutreten. Die Vereinigten Staaten übernahmen Europa gegenüber jene Rolle, welche England dem Kontinent gegenüber in früheren Kriegen gespielt und im letzten zu spielen versucht hat: das eine Lager mithilfe des anderen zu schwächen, sich in die militärischen Operationen nur insoweit einzumischen, als es die Sicherung der eigenen Vorteile erforderlich machte. Der Einsatz Wilsons war, wie bei amerikanischen Glücksspielen üblich, nicht groß, aber er war der letzte und damit war sein Gewinn sicher.

Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg [Photo]

Die Widersprüche der kapitalistischen Ordnung haben sich durch den Krieg für die Menschheit zu tierischen Qualen des Hungers und der Kälte, zu Epidemien und moralischer Verwilderung ausgewachsen. Dadurch ist auch der akademische Streit im Sozialismus über die Verelendungstheorie und über den schrittweisen Übergang des Kapitalismus zum Sozialismus endgültig entschieden. Statistiker und Pedanten der Theorie von der Ausgleichung der Widersprüche haben sich im Laufe von Jahrzehnten bemüht, aus allen Weltenden wirkliche und scheinbare Tatsachen heranzuzerren, welche von der Vergrößerung des Wohlstandes verschiedener Gruppen und Kategorien der Arbeiterklasse zeugten. Man nahm an, die Verelendungstheorie sei zu Grabe getragen unter dem verächtlichen Gepfeife der Eunuchen der bürgerlichen Katheder und der Mandarine des sozialistischen Opportunismus. Heute steht nicht nur die soziale, sondern auch die physiologische und die biologische Verelendung in ihrer ganzen erschütternden Wirklichkeit vor uns.

Die Katastrophe des imperialistischen Krieges hat alle Errungenschaften des gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampfes glatt weggefegt. Und dieser Krieg ist in demselben Maße aus den inneren Tendenzen des Kapitalismus erwachsen wie aus den wirtschaftlichen Abmachungen und parlamentarischen Kompromissen, die er in Blut und Schmutz begraben hat.

Das Finanzkapital, das die Menschheit in den Abgrund des Krieges warf, hat selbst im Laufe des Krieges katastrophale Veränderungen erlitten. Die Abhängigkeit des Papiergeldes von der materiellen Grundlage der Produktion war vollends gestört. In dem Maße, wie es seine Bedeutung als Mittel und Regulator der kapitalistischen Warenzirkulation verlor, wurde das Papiergeld zu einem Instrument der Requisition, der Beschlagnahme und ganz allgemein der militärisch-wirtschaftlichen Gewalt.

Die völlige Entartung des Papiergelds spiegelt die allgemeine tödliche Krise des kapitalistischen Warenaustauschs wider. Wenn der freie Wettbewerb als Regulator der Produktion und der Verteilung in den wichtigsten Gebieten der Wirtschaft schon in den dem Krieg vorangegangenen Jahrzehnten von dem System der Trusts und Monopole verdrängt wurde, so wurde durch den Gang des Krieges die regelnde Rolle den Händen der wirtschaftlichen Organisationen entrissen und direkt der militärischen Staatsmacht ausgeliefert. Die Verteilung der Rohstoffe, die Verwendung des Öls aus Baku oder Rumänien, der Donezk-Kohle, des ukrainischen Getreides, das Schicksal der deutschen Lokomotiven, Eisenbahnwagen, Automobile, die Versorgung des hungernden Europa mit Brot und Fleisch – all diese Grundfragen des wirtschaftlichen Lebens der Welt werden nicht durch den freien Wettbewerb oder durch die Zusammenarbeit nationaler und internationaler Konzerne und Trusts geregelt, sondern durch direkte Anwendung von militärischer Gewalt im Interesse ihres Fortbestandes. Hat die völlige Unterordnung der Staatsmacht unter die Gewalt des Finanzkapitals die Menschheit zur imperialistischen Schlachtbank geführt, so hat das Finanzkapital durch diese Massenabschlachtung nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst vollends militarisiert und ist nicht mehr fähig, seine wesentlichen ökonomischen Funktionen anders als mittels Blut und Eisen zu erfüllen.

Die Opportunisten, die vor dem Weltkrieg die Arbeiter zur Mäßigung im Namen des allmählichen Übergangs zum Sozialismus aufforderten, die während des Krieges Klassendemut im Namen des Burgfriedens und der Vaterlandsverteidigung verlangten, fordern wiederum vom Proletariat Selbstverleugnung zur Überwindung der entsetzlichen Folgen des Krieges. Fände diese Predigt bei den Arbeitermassen Gehör, so würde die kapitalistische Entwicklung auf den Knochen mehrerer Generationen in neuer, noch konzentrierterer und ungeheuerlicherer Form ihre Wiederaufrichtung feiern, mit der Aussicht eines neuen, unausbleiblichen Weltkrieges. Zum Glück für die Menschheit ist dies nicht mehr möglich.

Die Verstaatlichung des wirtschaftlichen Lebens, gegen welche der kapitalistische Liberalismus sich so sträubte, ist zur vollzogenen Tatsache geworden. Nicht nur zum freien Wettbewerb, sondern auch zur Herrschaft der Trusts, Syndikate und anderer wirtschaftlicher Ungetüme gibt es keine Rückkehr. Die Frage besteht einzig darin, wer künftig der Träger der verstaatlichten Produktion sein wird: der imperialistische Staat oder der Staat des siegreichen Proletariats?

Mit anderen Worten: Soll die gesamte arbeitende Menschheit zum leibeigenen Frondiener einer siegesgekrönten Weltclique werden, die unter dem Namen des Völkerbunds mithilfe eines »internationalen« Heeres und einer »internationalen« Flotte hier plündert und würgt, dort einen Brocken zuwirft, überall jedoch das Proletariat in Fesseln schlägt mit dem einzigen Ziel, die eigene Herrschaft zu erhalten, oder wird die Arbeiterklasse Europas und der fortgeschrittenen Länder der anderen Weltteile selbst die zerrüttete und zerstörte Volkswirtschaft in die Hand nehmen, um deren Wiederaufbau auf sozialistischer Grundlage sicherzustellen.

Die Epoche der gegenwärtigen Krise abzukürzen ist nur möglich durch die Mittel der proletarischen Diktatur, die nicht in die Vergangenheit Rückschau hält, weder erbliche Privilegien noch die Eigentumsrechte berücksichtigt, sondern von der Notwendigkeit der Rettung der hungernden Massen ausgeht, zu diesem Zweck alle Mittel und Kräfte mobil macht, die allgemeine Arbeitspflicht einführt, das Regime der Arbeitsdisziplin einsetzt, um auf diesem Weg im Laufe von einigen Jahren nicht allein die klaffenden Wunden zu heilen, die der Krieg geschlagen hat, sondern auch die Menschheit auf eine neue ungeahnte Höhe zu erheben.

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Der Nationalstaat, der der kapitalistischen Entwicklung einen mächtigen Impuls gegeben hat, ist für die Fortentwicklung der Produktivkräfte zu eng geworden. Umso unhaltbarer wurde die Lage der unter den Großmächten Europas und anderer Weltteile verstreuten kleinen Staaten. Diese Kleinstaaten, die zu verschiedenen Zeiten als Bruchstücke von großen Staaten, als Scheidemünze zur Bezahlung verschiedener Dienstleistungen, als strategische Puffer entstanden sind, haben ihre Dynastien, ihre herrschenden Banden, ihre imperialistischen Ansprüche, ihre diplomatischen Machenschaften. Ihre illusorische Unabhängigkeit hatte bis zum Krieg dieselbe Stütze wie das europäische Gleichgewicht: den ununterbrochenen Gegensatz zwischen den beiden imperialistischen Lagern. Der Krieg hat dieses Gleichgewicht gestört. Indem der Krieg anfänglich Deutschland ein gewaltiges Übergewicht verlieh, zwang er die Kleinstaaten, Heil und Rettung im Großmut des deutschen Militarismus zu suchen. Nachdem Deutschland geschlagen wurde, wandte sich die Bourgeoisie der Kleinstaaten gemeinsam mit ihren patriotischen »Sozialisten« dem siegreichen Imperialismus der Alliierten zu und begann in den heuchlerischen Punkten des wilsonschen Programms Sicherungen für ihr weiteres selbstständiges Fortbestehen zu suchen. Gleichzeitig ist die Zahl der Kleinstaaten gestiegen: Aus dem Bestand der österreichisch-ungarischen Monarchie, aus den Teilen des Zarenreiches sonderten sich neue Staatswesen ab, die, kaum in die Welt gesetzt, sich gegenseitig wegen der staatlichen Grenzen an die Kehle springen. Unterdessen bereiten die alliierten Imperialisten solche Verbindungen von neuen und alten Kleinstaaten vor, um sie durch den Teufelskreis des gegenseitigen Hasses und allgemeiner Ohnmacht zu binden.

Die Staatschefs der „Großen Vier“ bei der Pariser Friedenskonferenz am 27. Mai 1919. Von links nach rechts: David Lloyd George (Großbritannien), Vittorio Orlando (Italien), Georges Clemenceau (Frankreich) und Woodrow Wilson (USA)

Die kleinen und schwachen Völker unterdrückend und vergewaltigend, sie dem Hunger und der Erniedrigung preisgebend, hören die Entente-Imperialisten nicht auf, genau wie dies unlängst noch die Imperialisten der Zentralmächte taten, vom Selbstbestimmungsrecht der Völker zu sprechen, welches nunmehr in Europa wie in den übrigen Weltteilen vollständig zertreten daliegt.

Den kleinen Völkern eine freie Existenzmöglichkeit zu sichern, vermag nur die proletarische Revolution, welche die produktiven Kräfte aller Länder aus der Enge der Nationalstaaten befreit, die Völker in der engsten wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage eines allgemeinen Wirtschaftsplans vereinigt und auch dem kleinsten und schwächsten Volk die Möglichkeit gibt, frei und unabhängig die nationale Kultur zu pflegen, ohne dass die vereinigte und zentralisierte europäische und Weltwirtschaft beeinträchtigt wird.

Der letzte Krieg – nicht zuletzt ein Krieg um Kolonien – war gleichzeitig ein Krieg mithilfe der Kolonien. In nie da gewesenem Umfang wurde die Bevölkerung der Kolonien in den europäischen Krieg hineingezogen. Inder, Schwarze, Araber, Madagassen kämpften auf dem europäischen Festland. Wofür? Für ihr Recht, auch weiterhin Knechte Englands und Frankreichs zu bleiben. Niemals zeigte sich die kapitalistische Herrschaft schamloser, nie wurde das Problem der kolonialen Sklaverei in solcher Schärfe aufgerollt wie jetzt.

So kam es in den Kolonien zu einer Reihe offener Aufstände und revolutionärer Gärung. In Europa selbst erinnerte Irland in blutigen Straßenkämpfen daran, dass es noch immer ein geknechtetes Land ist und sich als solches fühlt. Auf Madagaskar, in Annam und in anderen Ländern haben die Truppen der bürgerlichen Republik während des Krieges mehr als einen Aufstand der Kolonialsklaven zu unterdrücken gehabt. In Indien ist die revolutionäre Bewegung auch nicht einen Tag zum Stillstand gekommen und hat in letzter Zeit zu dem größten Arbeiterstreik in Asien geführt, auf den die britische Regierung in Bombay mit dem Einsatz von Panzerwagen antwortete.

Auf solche Weise wurde die Kolonialfrage in ihrem ganzen Umfang nicht nur an dem grünen Tisch des Diplomatenkongresses in Paris, sondern auch in den Kolonien selbst auf die Tagesordnung gestellt. Das Programm Wilsons bezweckt im besten Fall nur eine Änderung des Etiketts der Kolonialsklaverei. Die Befreiung der Kolonien ist nur zusammen mit der Befreiung der Arbeiterklasse der Metropolen möglich. Die Arbeiter und Bauern nicht nur von Annam, Algerien, Bengalen, sondern auch von Persien und Armenien bekommen die Möglichkeit einer selbstständigen Existenz erst dann, wenn die Arbeiter Englands und Frankreichs Lloyd George und Clemenceau gestürzt und die Staatsmacht in ihre Hände genommen haben. In weiter entwickelten Kolonien geht der Kampf schon jetzt nicht bloß unter dem Banner der nationalen Befreiung vor sich, sondern nimmt gleich einen ausgesprochen sozialen Charakter an. Wenn das kapitalistische Europa die rückständigen Weltteile zwangsweise in den kapitalistischen Strudel hineingezogen hat, so wird das sozialistische Europa den befreiten Kolonien zu Hilfe kommen mit seiner Technik, seiner Organisation, seinem geistigen Einfluss, um deren Übergang zur planmäßig organisierten sozialistischen Wirtschaft zu erleichtern.

Kolonialsklaven Afrikas und Asiens! Die Stunde der proletarischen Diktatur in Europa wird auch die Stunde Eurer Befreiung sein!

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Die gesamte bürgerliche Welt klagt die Kommunisten der Vernichtung der Freiheit und der politischen Demokratie an. Das ist nicht wahr. Zur Herrschaft gelangt, stellt das Proletariat nur die volle Unmöglichkeit fest, die Methoden der bürgerlichen Demokratie anzuwenden, und schafft Bedingungen und Formen einer neuen, höheren Arbeiterdemokratie. Der ganze Verlauf der kapitalistischen Entwicklung untergrub, besonders in der letzten imperialistischen Epoche, die politische Demokratie nicht nur dadurch, dass er die Nationen in zwei unversöhnlich verfeindete Klassen spaltete, sondern auch dadurch, dass er die zahlreichen kleinbürgerlichen und halbproletarischen Schichten ebenso wie die verarmtesten Unterschichten des Proletariats zu wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit und politischer Ohnmacht verurteilte.

Die Arbeiterklasse hat in den Ländern, in denen die historische Entwicklung ihr diese Möglichkeit gegeben hat, das Regime der politischen Demokratie genutzt, um sich gegen das Kapital zu organisieren. Dasselbe wird auch noch in jenen Ländern geschehen, wo die Vorbedingungen einer Arbeiterrevolution noch nicht herangereift sind. Aber die breiten Zwischenschichten, nicht nur auf den Dörfern, sondern auch in den Städten, werden durch den Kapitalismus in ihrer historischen Entwicklung gehemmt und bleiben um ganze Epochen zurück.

Der nicht über seine Kirchturmspitze hinaussehende badische und bayerische Bauer, der durch die großkapitalistische Weinpanscherei zugrunde gerichtete französische kleine Weinbauer, der durch Bankiers und Abgeordnete ausgeplünderte und betrogene amerikanische Kleinfarmer, all diese durch den Kapitalismus von der großen Straße der Entwicklung abgedrängten sozialen Schichten werden auf dem Papier durch das Regime der politischen Demokratie zur Verwaltung des Staates berufen. In Wirklichkeit aber fällt in allen wichtigen Fragen, welche die Geschicke der Völker bestimmen, die Finanzoligarchie ihre Entscheidungen hinter dem Rücken der parlamentarischen Demokratie. So war es vor allem in der Kriegsfrage, und dasselbe findet jetzt in der Frage des Friedens statt. Wenn es die Finanzoligarchie für nützlich hält, ihre Gewalttaten durch parlamentarische Abstimmungen zu decken, stehen dem bürgerlichen Staat zur Erreichung der erforderlichen Ziele alle von früheren Jahrhunderten der Klassenherrschaft geerbten und durch die Wunder der kapitalistischen Technik vervielfachten Mittel zur Verfügung: Lüge, Demagogie, Hetze, Verleumdung, Bestechung und Terror.

An das Proletariat die Forderung zu stellen, dass es im letzten Kampf auf Leben und Tod mit dem Kapital lammfromm den Forderungen der bürgerlichen Demokratie folge, hieße, von einem Menschen, der sein Leben und seine Existenz gegen Räuber verteidigt, die Beachtung der künstlichen, konventionellen Regeln des französischen Ringkampfes zu verlangen, die von seinem Feind festgelegt, aber nicht befolgt werden.

Im Reiche der Zerstörung, wo nicht nur die Produktions- und Transportmittel, sondern auch die Institutionen der politischen Demokratie blutige Trümmer sind, muss das Proletariat seinen eigenen Apparat schaffen, der vor allem dazu dient, den inneren Zusammenhalt der Arbeiterklasse zu wahren und ihr revolutionäres Eingreifen in den weiteren Werdegang der Menschheit zu ermöglichen. Dieser Apparat sind die Arbeiterräte.

Die alten Parteien, die alten Gewerkschaften haben sich durch ihre Führer als unfähig erwiesen, die von der neuen Epoche gestellten Aufgaben zu verstehen, geschweige denn diese zu lösen. Das Proletariat schuf eine neue Form von Organisation, die die gesamte Arbeiterklasse umfasst, unbeachtet des Berufs und der politischen Reife, einen elastischen Apparat, der fähig ist, sich immerwährend zu erneuern, zu erweitern, immer neue und neue Schichten in seine Sphäre hineinzuziehen, seine Türen den dem Proletariat nahestehenden arbeitenden Schichten der Stadt und des Dorfes zu öffnen. Diese unersetzliche Organisation der Selbstverwaltung der Arbeiterklasse, ihres Kampfes und in Zukunft auch der Eroberung der Staatsmacht ist durch die Erfahrung verschiedener Länder erprobt und stellt die größte Errungenschaft und die mächtigste Waffe des Proletariats unserer Zeit dar.

Eine Sitzung des Petrograder Soldatenrats während der Revolution 1917

In allen Ländern, in denen die werktätigen Massen zum Denken erwacht sind, werden jetzt und auch fernerhin Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte gebildet. Die Räte zu stärken, ihre Autorität zu heben, sie dem Staatsapparat der Bourgeoisie entgegenzustellen – das ist jetzt die Hauptaufgabe der klassenbewussten und ehrlichen Arbeiter aller Länder. Mittels der Räte vermag die Arbeiterklasse sich vor dem Verfall zu retten, den die Höllenqualen des Krieges und des Hungers, die Gewalttaten der Besitzenden und der Verrat der ehemaligen Führer über sie gebracht haben. Mittels der Räte wird die Arbeiterklasse am sichersten und leichtesten in all den Ländern zur Macht gelangen, wo die Räte die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung um sich vereinigen. Mittels der Räte wird die zur Macht gelangte Arbeiterklasse alle Gebiete des ökonomischen und kulturellen Lebens verwalten, wie dies zurzeit in Russland schon der Fall ist.

Der Zusammenbruch des imperialistischen Staates, vom zaristischen bis zum »allerdemokratischsten«, geht gleichzeitig einher mit dem Zusammenbruch des imperialistischen Militärsystems. Die vom Imperialismus mobilisierten Millionenarmeen konnten nur solange standhalten, wie das Proletariat gehorsam unter dem Joch der Bourgeoisie verblieb. Der Zerfall der nationalen Einheit bedeutet auch einen unausbleiblichen Zerfall der Armee. So geschah es zuerst in Russland, dann in Deutschland und Österreich-Ungarn. Dasselbe ist auch in anderen imperialistischen Staaten zu erwarten. Der Aufstand des Bauern gegen den Gutsbesitzer, des Arbeiters gegen den Kapitalisten, beider gegen die monarchistische oder »demokratische« Bürokratie führt unausweichlich zum Aufstand des Soldaten gegen das Kommando und im Weiteren auch zu einer scharfen Spaltung zwischen den proletarischen und bürgerlichen Elementen der Armee. Der imperialistische Krieg, der eine Nation der anderen entgegenstellte, ging und geht in den Bürgerkrieg über, der eine Klasse der anderen entgegenstellt.

Das Gezeter der bürgerlichen Welt gegen den Bürgerkrieg und den roten Terror ist die ungeheuerlichste Heuchelei, die die Geschichte der politischen Kämpfe bisher aufzuweisen hat. Es würde keinen Bürgerkrieg geben, wenn nicht die Cliquen der Ausbeuter, die die Menschheit an den Rand des Verderbens gebracht haben, jedem Vorwärtsschreiten der arbeitenden Massen entgegengewirkt hätten, wenn sie nicht Verschwörungen und Morde angezettelt und bewaffnete Hilfe von außen angerufen hätten, um ihre räuberischen Vorrechte aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen.

Der Bürgerkrieg wird der Arbeiterklasse von ihren Erzfeinden aufgezwungen. Die Arbeiterklasse muss Schlag mit Schlag beantworten, wenn sie nicht sich selbst und ihrer Zukunft, die zugleich die Zukunft der ganzen Menschheit ist, entsagen will.

Während die kommunistischen Parteien den Bürgerkrieg nie unnötigerweise herbeiführen, versuchen sie – falls er zur eisernen Notwendigkeit werden sollte –, seine Dauer nach Möglichkeit zu verkürzen, die Zahl seiner Opfer zu verringern und vor allem dem Proletariat den Sieg zu sichern. Hieraus erklärt sich die Notwendigkeit der rechtzeitigen Entwaffnung der Bourgeoisie, der Bewaffnung der Arbeiter, der Schaffung einer kommunistischen Armee als Beschützerin der Macht des Proletariats und der Unantastbarkeit seines sozialistischen Aufbaus. Das ist die Rote Armee Sowjetrusslands, welche zum Schutz der Errungenschaften der Arbeiterklasse gegen jeden Überfall von innen und von außen entstanden ist. Die Sowjetarmee ist untrennbar vom Sowjetstaat.

Im Bewusstsein des weltgeschichtlichen Charakters ihrer Aufgaben haben die aufgeklärten Arbeiter schon bei den ersten Schritten ihrer organisierten sozialistischen Bewegung nach einer internationalen Vereinigung gestrebt. Der Grundstein zu derselben wurde 1864 in London in der Ersten Internationale gelegt. Der Preußisch-Französische Krieg, aus dem das Deutschland der Hohenzollern erwachsen ist, untergrub die Erste Internationale, indem er gleichzeitig Anstoß zur Entwicklung der nationalen Arbeiterparteien gab. Schon im Jahre 1889 vereinigten sich diese Parteien auf dem Kongress in Paris und schufen die Organisation der Zweiten Internationale. Aber der Schwerpunkt der Arbeiterbewegung lag in dieser Periode gänzlich auf nationalem Boden, im Rahmen der nationalen Staaten, auf der Grundlage der nationalen Industrie, im Rahmen des nationalen Parlamentarismus. Jahrzehnte organisatorischer und reformerischer Arbeit schufen eine Generation von Führern, die in ihrer Mehrheit das Programm der sozialen Revolution in Worten anerkannten, in Wirklichkeit aber es verleugneten und im Reformismus und in der Anpassung an den bürgerlichen Staat versumpften. Der opportunistische Charakter der leitenden Parteien der Zweiten Internationale entpuppte sich endgültig und führte zum größten Zusammenbruch der Weltgeschichte in dem Moment, als der Verlauf der historischen Ereignisse von den Arbeiterparteien revolutionäre Kampfmethoden verlangte. Wenn der Krieg von 1870 der Ersten Internationale einen Schlag versetzte, indem er die Tatsache enthüllte, dass hinter dem sozialrevolutionären Programm noch keine geschlossene Macht der Massen stand, so tötete der Krieg von 1914 die Zweite Internationale, indem er zeigte, dass über den zusammengeschweißten Arbeitermassen Parteien stehen, die sich in untertänige Organe des bürgerlichen Staates verwandelt haben.

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Dies bezieht sich nicht nur auf die Sozialpatrioten, die heute offen in das Lager der Bourgeoisie übergegangen und zu ihren bevorzugten Vertrauenspersonen und verlässlichen Henkern der Arbeiterklasse geworden sind, sondern auch auf das verschwommene, unbeständige sozialistische Zentrum, das heute bemüht ist, die Zweite Internationale, d. h. die Beschränktheit, den Opportunismus und die revolutionäre Machtlosigkeit ihrer leitenden Spitzen zu erneuern. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die heutige Mehrheit der Sozialistischen Partei Frankreichs, die Gruppe der Menschewiki in Russland, die Independent Labour Party (ILP – Unabhängige Arbeiterpartei) Englands und andere ähnliche Gruppen versuchen tatsächlich den Platz auszufüllen, den die alten offiziellen Parteien der Zweiten Internationale vor dem Krieg eingenommen hatten, indem sie wie früher mit Ideen des Kompromisses und der Einigung auftreten, auf diese Weise mit allen Mitteln die Energie des Proletariats paralysieren, die Krise in die Länge ziehen und somit das Elend Europas noch vergrößern. Der Kampf gegen das sozialistische Zentrum ist die notwendige Vorbedingung des erfolgreichen Kampfes gegen den Imperialismus.

Indem wir die Halbherzigkeit, Lügenhaftigkeit und Fäulnis der überlebten offiziellen sozialistischen Parteien verwerfen, fühlen wir, die in der Dritten Internationale vereinigten Kommunisten, uns als direkte Nachfolger der heroischen Anstrengungen und des Märtyrertums einer langen Reihe revolutionärer Generationen, von Babeuf bis Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht

Wenn die Erste Internationale die künftige Entwicklung vorausgesehen und ihre Wege vorgezeichnet, wenn die Zweite Internationale Millionen Proletarier gesammelt und organisiert hat, so ist die Dritte Internationale die Internationale der offenen Massenaktion, der revolutionären Verwirklichung, die Internationale der Tat.

Die sozialistische Kritik hat die bürgerliche Weltordnung genügend gebrandmarkt. Die Aufgabe der internationalen kommunistischen Partei besteht darin, diese Ordnung umzustürzen und an ihrer Stelle das Gebäude der sozialistischen Ordnung zu errichten. Wir fordern die Arbeiter und Arbeiterinnen aller Länder auf, sich unter dem kommunistischen Banner zu vereinigen, unter dessen Zeichen die ersten großen Siege bereits erfochten sind.

Proletarier aller Länder! Im Kampf gegen die imperialistische Barbarei, gegen die Monarchie, gegen die privilegierten Stände, gegen den bürgerlichen Staat und das bürgerliche Eigentum, gegen alle Arten und Formen der sozialen und nationalen Bedrückung – vereinigt euch!

Unter dem Banner der Arbeiterräte, des revolutionären Kampfes für die Macht und die Diktatur des Proletariats, unter dem Banner der Dritten Internationale, Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

»Prawda«, Nr. 52

7. März 1919

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