Diesen Vortrag hielt Christoph Vandreier, der Vorsitzende der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP), auf der Summer School der SEP (USA), die vom 2. bis 9. August 2025 stattfand.
Die WSWS veröffentlicht außerdem zwei Primärquellen von Leo Trotzki, die diesen Vortrag ergänzen: das „Manifest der Kommunistischen Internationale an die Arbeiter aller Länder“, das auf dem ersten Kongress der Kommunistischen Internationale verabschiedet wurde, sowie „Was ist nun die permanente Revolution?“. Der letztere Text ist Kapitel 10 aus Trotzkis Werk „Die permanente Revolution“. Wir empfehlen unseren Lesern, diese Texte zusammen mit dem Vortrag zu studieren.
Die WSWS wird in den kommenden Wochen alle Vorträge der Sommerschule veröffentlichen. Die Einführung des Nationalen Vorsitzenden der SEP David North ist unter dem Titel „Der Platz von Sicherheit und die Vierte Internationale in der Geschichte der trotzkistischen Bewegung“ erschienen.
Einleitung
Die Untersuchung „Sicherheit und die Vierte Internationale“ war nicht einfach eine Detektivgeschichte zum Mord an Leo Trotzki. Indem das IKVI eine Untersuchung von Trotzkis Ermordung einleitete und die Rolle der Stalinisten und Imperialisten in- und außerhalb der Bewegung beleuchtete, verband sie sich tiefer mit der Geschichte der revolutionären Bewegung.
Im Gegensatz zu den Pablisten oder der Robertson-Gruppe nahm sie die Geschichte der Bewegung und die darin enthaltene politische Klärung ernst, denn sie verstand, dass in der Kontinuität der Vierten Internationale der Schlüssel für die Lösung der Krise der revolutionären Führung und damit der Krise der Menschheit lag.
Die Perspektive und die historischen Prinzipien, die im IKVI verkörpert sind, sind die einzige Grundlage, auf der die Arbeiterklasse befähigt werden kann, die Kapitalisten zu stürzen und eine sozialistische Gesellschaft zu bauen. Daraus ergibt sich die Todesfeindschaft der Stalinisten und der Imperialisten gegenüber unserer Bewegung.
Es ist daher unerlässlich, eine Schule über Sicherheit und die Vierte Internationale mit der Darstellung eben der Perspektive zu beginnen, die sie in ihrer Geschichte verteidigt und entwickelt hat: der Perspektive des Trotzkismus, des internationalen Sozialismus.
In der Neujahrsperspektive 2017 nannten die Genossen Joe Kishore und David North die folgenden drei politischen und theoretischen Grundlagen, auf denen die Oktoberrevolution basierte:
1) die Verteidigung und Weiterentwicklung des dialektischen und historischen Materialismus im Gegensatz zum philosophischen Idealismus und antimarxistischen Revisionismus, als theoretische Grundlage der politischen Aufklärung und der revolutionären Praxis der Arbeiterklasse,
2) der unnachgiebige Kampf gegen zahlreiche Formen des Opportunismus und Zentrismus, die den Kampf für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse behinderten oder untergruben, und
3) die sich über Jahre erstreckende Ausarbeitung der strategischen Perspektive, von der sich die Partei der Bolschewiki beim Kampf um die Macht 1917 leiten ließ. Der entscheidende Fortschritt, der die Strategie der Bolschewiki in den Monaten vor dem Sturz der provisorischen Regierung voranbrachte, bestand im Hinblick auf den letztgenannten Punkt darin, dass Lenin die Theorie der permanenten Revolution übernahm, die Trotzki im vorangegangenen Jahrzehnt ausgearbeitet hatte.[1]
Was den zweiten Punkt betrifft, so führte Lenin einen unnachgiebigen Kampf für die unabhängige Perspektive der Arbeiterklasse. Schon in seinen Schriften gegen die Volkstümler in den 1890er Jahren bestand Lenin darauf, dass die Arbeiterklasse ihre unabhängige Klassenposition gegen diese bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräfte beziehen müsse. In „Was tun“ führte er gegen die Ökonomisten aus, dass die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse nur in einem andauernden praktischen, politischen und theoretischen Kampf gegen bürgerliches und spontanes Bewusstsein hergestellt werden kann, und die Spaltung von 1903 mit den Menschewiki führte er auf dieser Grundlage durch.
Lenin verstand, dass in diesem Kampf für die unabhängige Linie und gegen jeden Opportunismus eine materialistische Auffassung der Geschichte und Gesellschaft unabdingbar ist. Nur wenn die revolutionäre Partei den Klassenkampf wissenschaftlich versteht, kann sie in ihn intervenieren und das Bewusstsein der Arbeiterklasse heben. Wie Lenin in seiner bedeutenden Schrift „Materialismus und Empiriokritizismus“ hervorragend auf den Punkt gebracht hat:
Die höchste Aufgabe der Menschheit ist es, diese objektive Logik der wirtschaftlichen Evolution (der Evolution des gesellschaftlichen Seins) in den allgemeinen Grundzügen zu erfassen, um derselben ihr gesellschaftliches Bewusstsein und das der fortgeschrittenen Klassen aller kapitalistischen Länder so deutlich, so klar, so kritisch als möglich anzupassen.[2]
Das war die Arbeitsgrundlage Lenins, Trotzkis und der anderen großen Marxisten. Sie verstanden den Marxismus nicht als Schablone, die der geschichtlichen Entwicklung übergestülpt wird, sondern als Werkzeug, die objektive Entwicklung genau zu verstehen, um die unabhängige Haltung der Arbeiterklasse zu entwickeln. Von diesem Standpunkt näherten sie sich den umfassenden Veränderungen, die der Kapitalismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erfahren hatte. In Russland stellten sich diese Fragen besonders scharf.
Drei Konzeptionen der russischen Revolution
„Grundsätzlich geht der Marxismus davon aus, dass eine soziale Revolution - die Ablösung einer herrschenden Klasse durch eine andere - dann eintritt, wenn sich die Produktivkräfte im Rahmen der bestehenden Produktionsverhältnisse nicht mehr weiterentwickeln können“, wie Genosse Kishore in seinem Vortrag über die Russische Revolution erklärte.[3]
Aber als der Marxismus in Russland Einzug erhielt, waren diese Prozesse erst im Keim entwickelt. Das Land war weitgehend agrarisch geprägt mit einer Bauernschaft von 100 Millionen. Zwar war die Leibeigenschaft 1861 abgeschafft worden, doch blieben die ländlichen Strukturen im Wesentlichen feudal, dominiert von etwa 60.000 extrem reichen, zumeist adeligen Großgrundbesitzern. Gleichzeitig war die Industrie in den städtischen Zentren sehr modern. Drei bis fünf Millionen Arbeiter produzierten etwa die Hälfte des nationalen Einkommens, oft in Großbetrieben mit über 1000 Beschäftigten.
Unter diesen Bedingungen fand in der russischen sozialistischen Bewegung eine intensive Diskussion über den Charakter der Revolution in Russland statt, die von größter Bedeutung für den internationalen Marxismus war und die Grundlage für die Oktoberrevolution bildete. Im Wesentlichen existierten drei Konzeptionen.
Der Vater des russischen Marxismus, Georgi Plechanow, verstand durchaus die Notwendigkeit, eine unabhängige Partei der Arbeiterklasse aufzubauen, die sich dem internationalen Sozialismus verschreibt. Schon 1848 in Deutschland hatte sich gezeigt, dass die Bourgeoisie aus Angst vor einer proletarischen Erhebung eher das Bündnis mit den Feudalmächten sucht, als die demokratische Revolution voranzutreiben. „Die revolutionäre Bewegung wird in Russland als Arbeiterbewegung triumphieren, oder sie wird nie triumphieren“, erkläre Plechanow deshalb auf dem Gründungskongress der Zweiten Internationale im Jahr 1889.
Aber Plechanow übertrug die Entwicklung des Kapitalismus in Westeuropa formal auf die Situation in Russland und verstand die Revolution daher als rein bürgerliche Revolution. Die Arbeiter müssten sie zwar vorantreiben, aber die Macht letztlich der Bourgeoisie übergeben, damit sich der Kapitalismus in Russland voll entfalten könne. Als menschewistischer Führer bewarb er schließlich offen das Bündnis des Proletariats mit dem Bürgertum. Als die Revolution von 1905 ausbrach, wurde die Begrenztheit dieser Perspektive offensichtlich. Wie David North erklärte:
Die Ereignisse von 1905 - der Ausbruch der ersten russischen Revolution - stellten die Gültigkeit von Plechanows theoretischem Modell in Frage. Der wichtigste Aspekt der russischen Revolution war die dominierende politische Rolle des Proletariats im Kampf gegen den Zarismus. Vor dem Hintergrund von Generalstreik und Aufstand nahmen sich die Manöver der politischen Führer der russischen Bourgeoisie kleinlich und verräterisch aus. Sie brachte keinen Robespierre oder Danton hervor. Die Kadettenpartei (Konstitutionelle Demokraten) hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den Jakobinern.[4]
Lenin entwickelte inmitten dieser revolutionären Ereignisse des Jahres 1905 eine Plechanow entgegensetzte Position. Bei der Lösung der Aufgaben der bürgerlichen Revolution konnte sich das Proletariat nicht auf die Bourgeoisie stützen, die auf jede unabhängige Regung der Arbeiterklasse reagierte, indem sie enger an die Landbesitzer und das zaristische Regime heranrückte.
Lenin trat dafür ein, dass die Arbeiterklasse unabhängig von der Bourgeoisie und gegen diese die Aufgaben der bürgerlichen Revolution lösen müsse. Dabei setzte er auf das Bündnis mit der Bauernschaft. Statt des bürgerlichen Parlamentarismus forderte er eine „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“, statt der Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie die Mobilisierung der arbeitenden Landbevölkerung. Doch auch Lenin sah die Aufgaben dieser Revolution, vor allem die Lösung der Landfrage, als bürgerlich an. Wie Lenin ausführte:
Doch selbstverständlich wird das keine sozialistische, sondern eine demokratische Diktatur sein. Sie wird (ohne eine ganze Reihe Zwischenstufen der revolutionären Entwicklung) nicht imstande sein, die Grundlagen des Kapitalismus anzutasten. Sie wird im besten Fall imstande sein, eine radikale Neuverteilung des Grundeigentums zugunsten der Bauernschaft vorzunehmen, einen konsequenten und vollen Demokratismus bis zur Errichtung der Republik durchzuführen, alle asiatischen Wesenszüge und Knechtschaftsverhältnisse im Leben nicht nur des Dorfes, sondern auch der Fabrik auszumerzen, für eine ernsthafte Verbesserung der Lage der Arbeiter, für die Hebung ihrer Lebenshaltung den Grund zu legen und schließlich last but not least, den revolutionären Brand nach Europa zu tragen.[5]
Lenins Konzeption war ganz fraglos ein bedeutender Schritt vorwärts, weil er das Klassenverhältnis in der Revolution neu formulierte und die Revolution in Russland bereits in die europäische Revolution einordnete. Aber seine Formel der demokratischen Diktatur ließ die Frage des Klassencharakters der neuen Regierung unbeantwortet. Sie blieb in Hinblick auf die Politik der neuen Regierung ziemlich formal. Trotzki wies bereits 1905 darauf hin, dass Lenin den Widerspruch zwischen den Klasseninteressen der Arbeiter und den objektiven Bedingungen der russischen Rückständigkeit durch Selbstzurückhaltung der Arbeiter lösen wolle.
Wenn die Menschewiki, von der Abstraktion ausgehend: „unsere Revolution ist bürgerlich“, zu dem Gedanken der Anpassung der ganzen Taktik des Proletariats an die Führung der liberalen Bourgeoisie kommen, bis diese die Staatsmacht erobert hat; so kommen die Bolschewiki von derselben nackten Abstraktion ausgehend: „demokratische und nicht-sozialistische Diktatur“, zu dem Gedanken der bürgerlich-demokratischen Selbstbeschränkung des Proletariats, in dessen Händen sich die Staatsmacht befindet. Der Unterschied zwischen ihnen in dieser Frage ist allerdings sehr bedeutend: Während sich die anti-revolutionären Seiten des Menschewismus mit aller Kraft schon jetzt zeigen, droht den anti-revolutionären Zügen des Bolschewismus eine große Gefahr erst im Falle eines revolutionären Sieges.[6]
Damit umriss Trotzki bereits die Grundzüge der Theorie der Permanenten Revolution, die er ein Jahr später in „Ergebnisse und Perspektiven“ systematisch darlegte. Lenin und Trotzki verstanden beide, dass die Arbeiterklasse die Bauernschaft führen müsse, die selbst zu keiner unabhängigen Politik in der Lage ist. Aber sie unterschieden sich in Hinblick auf den Klassencharakter, den die neue Regierung haben würde. Trotzki erklärte, dass die Revolution unter Führung der Arbeiterklasse permanent in dem Sinne ist, dass die Arbeiter, wenn sie die Macht übernommen haben, nicht bei bürgerlich-demokratischen Maßnahmen stehen bleiben können, sondern gezwungen sein werden, sozialistische Maßnahmen zu ergreifen.
Es stellte sich aber die Frage, wie das in dem rückständigen Russland möglich sein sollte, in dem sich der Kapitalismus noch nicht entwickelt hatte, und das zum allergrößten Teil aus Bauern bestand. Und hier entwickelte Trotzki, gestützt auf eine genaue Untersuchung der Entwicklung der Weltwirtschaft und der widersprüchlichen Entwicklung in Russland, das zentrale Element der Theorie der Permanenten Revolution, das nicht nur für die rückständigen Ländern, sondern für die Strategie der sozialistischen Weltrevolution von größter Bedeutung ist. Wie Lenin begriff auch Trotzki die Revolution in Russland nicht als isoliertes, nationales Ereignis, sondern als Teil der Weltrevolution. Aber Trotzki zog daraus besonders weitreichende Schlussfolgerungen. Im Jahr 1905 schrieb er:
Indem er allen Ländern seine eigene Wirtschaftsweise und seine eigenen Verhältnisse aufzwingt, hat der Kapitalismus die Welt in einen einzigen wirtschaftlichen und politischen Organismus verwandelt (...) Diese Tatsache verleiht allen Ereignissen, die sich gegenwärtig entwickeln, von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet großartige Aussichten. Die politische Emanzipation, geführt von der russischen Arbeiterklasse, hebt letztere auf eine historisch beispiellose Höhe, verleiht ihr kolossale Mittel und Ressourcen und macht sie zum Initiator der weltweiten Abschaffung des Kapitalismus, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat.[7]
Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution war keine Utopie, sondern gründete sich auf ein Verständnis der globalen kapitalistischen Entwicklung. 1931 fasste Trotzki diese Erkenntnis in seiner Schrift „Die Permanente Revolution“ treffend zusammen:
Eine grundlegende Ursache für die Krisis der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, dass die von dieser Gesellschaft geschaffenen Produktivkräfte sich mit dem Rahmen des nationalen Staates nicht vertragen. Daraus ergeben sich einerseits die imperialistischen Kriege, andererseits die Utopie der bürgerlichen Vereinigten Staaten von Europa. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: Sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.[8]
In „Verteidigung Leo Trotzkis“ bringt David North auf den Punkt, wie grundlegend diese Analyse in Hinblick auf die Strategie der sozialistischen Weltrevolution war:
Ausgehend von der Realität des Weltkapitalismus und in Anerkenntnis der objektiven Abhängigkeit der russischen Ereignisse von der internationalen ökonomischen und politischen Entwicklung sah Trotzki voraus, dass die russische Revolution unweigerlich eine sozialistische Richtung einschlagen musste. Die russische Arbeiterklasse würde gezwungen sein, die Macht zu erobern und bis zu einem gewissen Grad Maßnahmen sozialistischen Charakters zu ergreifen. Doch auf dem einmal eingeschlagenen sozialistischen Kurs würde die Arbeiterklasse in Russland unvermeidlich an die Schranken der nationalen Umgebung stoßen. Wie würde sie dieses Dilemma lösen? Indem sie ihr Schicksal mit der europäischen und der Weltrevolution verknüpfte, deren Manifestation ihr eigener Kampf letztlich war.
(...) Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ermöglichte eine realistische Konzeption der Weltrevolution. Das Zeitalter der nationalen Revolutionen war zu Ende - oder, um genauer zu sein, nationale Revolutionen konnten nur noch im Rahmen der internationalen sozialistischen Revolution verstanden werden.[9]
Permanente Revolution in Russland: Von den Aprilthesen zur Oktoberrevolution
Die Theorie der Permanenten Revolution bestätigte sich zunächst im Weltkrieg, dem Zusammenbruch des kapitalistischen Nationalstaatensystems, und dann in jeder Hinsicht in der Russischen Revolution.
Schon die Februarrevolution war in erster Linie von der Arbeiterklasse ausgegangen und insbesondere von den Arbeitern geführt worden, die von den Bolschewiki ausgebildet worden waren. Sie führten den Aufstand zum Sieg, waren aber ohne zentralisierte Partei nicht in der Lage, die Macht sogleich in die Hand der proletarischen Avantgarde zu legen. So entstand die Doppelherrschaft zwischen der von der liberalen Bourgeoisie geführten Duma und dem Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten.
Wie Trotzki vorausgesehen hatte, versuchte die Bourgeoisie alles, um die Revolution zu unterdrücken und den Zaren zu verteidigen. Nach der Abdankung des Zaren versuchte die provisorische Regierung, die Arbeiter zu entwaffnen, den Sowjet aufzulösen und den Krieg fortzusetzen. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die im Sowjet zunächst die Mehrheit hatten, unterstützten die provisorische Regierung und insbesondere die Fortsetzung des Kriegs – entsprechend ihrer Vorstellung, dass die Arbeiterklasse die Bourgeoisie unterstützen müsse, auch wenn diese der Revolution offen feindlich gegenüberstand.
Unter diesen Bedingungen entwickelte sich in der bolschewistischen Partei eine heftige Auseinandersetzung über das Verhältnis zur provisorischen Regierung und zur Fortführung des Kriegs. Kamenew und Stalin, die gemeinsam die Redaktion der Prawda leiteten, argumentierten, dass die Bolschewiki die provisorische Regierung kritisch unterstützen müssten, um die besten Bedingungen für die „demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern“ zu schaffen. Sie riefen sogar offen dazu auf, die Fortführung des Kriegs zu unterstützen.
Lenin hatte sich hingegen schon während des Krieges in seiner grundlegenden Analyse des Imperialismus den Positionen Trotzkis angenähert. In „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ legte er dar, wie sich der Kapitalismus in ein „Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll ‚fortgeschrittener‘ Länder“ entwickelt hatte. Seine Parole „Den Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln“ setzte die sozialistische Revolution in allen europäischen Ländern auf die Tagesordnung.
Schon vor seiner Rückkehr nach Russland bezeichnete Lenin in seinen „Briefen aus der Ferne“ jede Unterstützung der provisorischen Regierung daher als Verrat an der Sache des Proletariats und lehnte die Fortführung des imperialistischen Raubzugs entschieden ab. Sobald er in Russland angekommen war, legte er der Partei seine „Aprilthesen“ vor, aufgrund derer ihm nicht zu Unrecht „Trotzkismus“ vorgeworfen wurde.
In seinen Thesen betonte Lenin, dass sich die Haltung der Bolschewiki jetzt nicht ändern dürfe, da der Krieg von russischer Seite ein imperialistischer Raubkrieg bleibe. Gerade weil in den Massen eine Stimmung vorherrsche, die den Krieg als Verteidigung der Revolution empfände, sei es notwendig, dass die Bolschewiki den wahren Hintergrund des Krieges offenbarten. Man müsse den Nachweis führen, dass es ohne den Sturz des Kapitals unmöglich sei, den Krieg „durch einen wirklich demokratischen Frieden zu beenden, einen Frieden, der nicht durch Gewalt aufgezwungen wird“.
Das war ein wichtiger Punkt, weil Lenin von den objektiven Verhältnissen und nicht dem unmittelbaren Bewusstsein der Arbeiterklasse ausging, wie er es in „Was tun?“ bereits dargelegt hatte. Die Logik des Klassenkampfs werde den konterrevolutionären Charakter Kerenskis und der Menschewiki offenlegen, erklärte Lenin. Im entscheidenden Stadium werde das Zusammentreffe von Parteiprogramm und objektiven Verhältnissen die Bolschewiki in die Lage versetzen, die Masse der Arbeiterklasse für die Perspektive der sozialistischen Revolution zu gewinnen.
Im zweiten Punkt seiner Thesen stellte sich Lenin klar hinter die Konzeption der Permanenten Revolution, indem er zur Machtübernahme durch das Proletariat aufrief. Er erklärte, dass die Bolschewiki keinerlei Illusionen in die provisorische Regierung schüren dürften, sondern dem Parlamentarismus die Räteherrschaft entgegenstellen müssten. Polizei, Armee und Beamtenschaft müssten abgeschafft und ersetzt werden.
Neben einer Verstaatlichung des Bodens forderte Lenin auch die direkte Kontrolle der Banken durch die Sowjets und Arbeiterkontrolle über Produktion und Verteilung. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands sollte in Kommunistische Partei umbenannt und die Gründung einer Kommunistischen Internationale in Angriff genommen werden, die sich sowohl gegen die Sozialchauvinisten als auch gegen die Zentristen wendet.
David North fasst Lenins Entwicklung hin zu Trotzkis Position treffend zusammen:
Lenins Strategie stand nun im Einklang mit Trotzkis Theorie der permanenten Revolution. Sein politisches Programm stütze sich nicht vorrangig auf eine Einschätzung der nationalen Bedingungen und Möglichkeiten, wie sie sich in Russland darboten. Die entscheidende Frage für die Arbeiterklasse war nicht, ob sich der Kapitalismus im Rahmen des russischen Nationalstaats weit genug entwickelt habe, um den Übergang zum Sozialismus zu ermöglichen. Sondern die russische Arbeiterklasse befand sich in einer historischen Lage, in der ihr eigenes Schicksal untrennbar mit den Kämpfen der europäischen Arbeiterklasse gegen den imperialistischen Krieg und seine Ursache, das kapitalistische System, verbunden war.[10]
Lenins neue Ausrichtung zeigte sich auch deutlich in seinem Programmentwurf für die proletarische Partei, den er ebenfalls im April 1917 verfasste. Darin heißt es:
Der Krieg ist nicht durch den bösen Willen der kapitalistischen Räuber hervorgerufen worden, obwohl er zweifellos nur in ihrem Interesse geführt wird, nur sie bereichert. Der Krieg ist durch die Entwicklung des Weltkapitals in einem halben Jahrhundert, durch dessen milliardenfache Fäden und Verbindungen hervorgerufen worden. Man kann nicht aus dem imperialistischen Krieg herausspringen, man kann einen demokratischen, nicht auf Gewalt basierenden Frieden nicht erzielen ohne den Sturz der Herrschaft des Kapitals, ohne den Übergang der Staatsmacht an eine andere Klasse, an das Proletariat.
Die russische Revolution vom Februar-März 1917 war der Beginn der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg. Diese Revolution hat den ersten Schritt zur Beendigung des Krieges getan. Erst der zweite Schritt kann seine Beendigung sicherstellen, nämlich der Übergang der Staatsmacht an das Proletariat. Das wird der Anfang des „Durchbruchs der Front“, der Front der Interessen des Kapitals im Weltmaßstab sein, und erst nachdem das Proletariat diese Front durchbrochen hat, kann es die Menschheit von den Schrecken des Krieges erlösen, ihr das Glück eines dauerhaften Friedens sichern.[11]
Während sich Lenin damit der Theorie der Permanenten Revolution angeschlossen hatte, gewann Trotzki im Laufe des Kriegs und der Revolution in Russland ein tieferes Verständnis von Lenins unnachgiebigem Kampf für den vollständigen Bruch mit den Opportunisten, die sich zu Sozialpatrioten und Vaterlandsverteidigern entwickelt hatten. Seit Trotzki eine Vereinigung mit den Menschewiki ausgeschlossen habe, „gab es keinen besseren Bolschewiken“, erklärte Lenin im Oktober 1917.
Lenin hatte den Kampf gegen den Opportunismus in der Arbeiterbewegung schon in „Was tun?“ ins Zentrum gestellt und 1912 den Bruch mit den Menschewiki vollzogen. Mit Ausbruch des Kriegs drängte Lenin international auf einen totalen Bruch mit den Vaterlandsverteidigern und insbesondere mit den Zentristen, die eben diesen Bruch vereiteln wollten.
In Russland bestätigte sich das in der konterrevolutionären Rolle, die die Menschewiki spielten. Statt gegen die Bourgeoisie und die Schwarzhundertschaften, kämpften diese gegen die Bolschewiki und unterstützen die Hatz nach den Juli-Protesten. Trotzki wurde ins Gefängnis gesperrt und Lenin musste untertauchen. Kerenski, der von den Menschewiki unterstützt wurde, arbeitete sogar mit General Kornilow zusammen, um den Sowjet zu entmachten und die Revolution zu zerstören. Es spitze sich ganz objektiv die Frage der Staatsmacht zu, und die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Kerenski unterstützten, waren unter den Massen diskreditiert.
Lenin widmete sich in dieser Zeit seiner grundlegenden Studie „Staat und Revolution“, in der er sich vehement gegen die Position der Reformisten wandte, der bürgerliche Staatsapparat könne von der Arbeiterklasse in Besitz genommen werden. Gestützt auf Marx und Engels zeigte Lenin den Klassencharakter des Staates auf und wies nach, dass die Arbeiterklasse den bürgerlichen Staat zerschlagen und durch ihren eigenen ersetzen musste. Trotzki bezeichnete das Werk zu Recht als „wissenschaftliche Einführung in die größte Revolution der Geschichte“, es war die Vorbereitung der Machtübernahme. Nachdem die Arbeiter unter Führung der Bolschewiki den Kornilow-Putsch zurückgeschlagen hatten, schrieb Lenin, noch während er an „Staat und Revolution“ arbeitete:
Die Frage der Staatsmacht kann weder umgangen noch beiseite geschoben werden, denn das ist eben die Grundfrage, die in der Entwicklung der Revolution, in deren Innen und Außenpolitik alles bestimmt (...)
Jedoch wird die Losung „Die Macht den Sowjets“ sehr oft, wenn nicht in den meisten Fällen, ganz falsch aufgefasst, und zwar im Sinne einer „Regierung aus den Parteien der Sowjetmehrheit“ (...) [Aber nein] „Die Macht den Sowjets“, das bedeutet die radikale Umgestaltung des ganzen alten Staatsapparats, dieses Bürokratenapparats, der alles Demokratische hemmt, das bedeutet, diesen Apparat zu beseitigen und durch einen neuen, einen Apparat des Volkes, zu ersetzen, d.h. durch den wahrhaft demokratischen Apparat der Sowjets, d.h. der organisierten und bewaffneten Mehrheit des Volkes, der Arbeiter, Soldaten und Bauern, das bedeutet, der Mehrheit des Volkes Initiative und Selbständigkeit zu gewähren, nicht nur bei der Wahl von Deputierten, sondern auch bei der Verwaltung des States, bei der Durchführung der Reformen und Umgestaltungen.[12]
Diese Orientierung Lenins gegen jede Halbheit und jeden Kompromiss mit der Bourgeoisie oder ihren Agenten in den Reihen der Arbeiterklasse legte fraglos die Grundlage für die Oktoberrevolution. Diese Haltung konnten Lenin und Trotzki nur angesichts ihrer strategischen Ausrichtung auf die sozialistische Weltrevolution einnehmen, denn nur die internationale Arbeiterklasse bot die objektive Grundlage für diese gewaltige revolutionäre Umwälzung.
Das zeigte sich auch unmittelbar vor der Oktoberrevolution, als Sinowjew und Kamenew die Machtübernahme durch die Bolschewiki ablehnten. Die Zweifler betrachteten ausschließlich die nationalen Bedingungen in Russland, unter denen sie eine Revolution für unmöglich erachteten. Sie forderten stattdessen, für das Zusammentreten der verfassungsgebenden Versammlung zu kämpfen und die Bourgeoisie zu zwingen, die demokratischen Aufgaben zu lösen. Sie wiederholten – auf höherer Entwicklungsstufe – die Auseinandersetzungen des Aprils.
Lenin und Trotzki verstanden die russische Entwicklung als Teil des internationalen Klassenkampfs und kamen von daher zu völlig anderen Schlussfolgerungen.
Gerade als die Bolschewiki die Mehrheit der Sowjets errungen hatten und erhebliche Teile der Armee hinter sich wussten, brachen die Konflikte um die Orientierung am schärfsten auf. In dieser Situation kam es in besonderem Maße auf die theoretischen und politischen Kämpfe an, die Lenin und Trotzki in den 15 Jahren zuvor ausgefochten hatten. David North fasst die Bedeutung der Partei in seinen Gründen zusammen, warum die Russische Revolution studiert werden muss:
Die Bolschewiki haben der Arbeiterklasse vor Augen geführt, was eine wirklich revolutionäre Partei ausmacht, und weshalb sie für den Sieg der sozialistischen Revolution eine unverzichtbare Rolle spielt. Ein sorgfältiges Studium des Verlaufs der Revolution 1917 beweist ohne jeden Zweifel, dass das Bestehen der Bolschewistischen Partei, mit Lenin und Trotzki an der Spitze, den Ausschlag für den Sieg der sozialistischen Revolution gab. Die Bewegung der russischen Arbeiterklasse, die von einem revolutionären Aufstand der Bauernschaft untersützt wurde, nahm 1917 gigantische Dimensionen an. Und doch erweist es sich bei realistischer Betrachtung der Ereignisse jenes Jahres als ausgeschlossen, dass es der Arbeiterklasse ohne die Führung der Bolschewistischen Partei möglich gewesen wäre, die Macht zu erobern. Als wesentliche Bilanz aus dieser Erfahrung erklärte Trotzki später: „Die Rolle und die Verantwortung der Führung in einer revolutionären Epoche ist enorm.“ Diese Schlussfolgerung ist in der heutigen historischen Situation ebenso gültig wie 1917.[13]
In seinem Werk „Lehren des Oktobers“ bringt Trotzki diesen Gedanken auf den Punkt:
[E]s erwies sich, daß durch das Nichtvorhandensein einer Partei, die in der Lage gewesen wäre, einen proletarischen Aufstand zu leiten, dieser selbst unmöglich wurde. Durch einen elementaren Aufstand kann das Proletariat die Macht nicht erobern (...) Eine besitzende Klasse ist imstande, die Macht, die einer anderen besitzenden Klasse entrissen wurde, zu erobern, indem sie sich auf ihren Reichtum, ihre „Kultur“, ihre unzähligen Verbindungen mit dem alten Staatsapparat stützt. Dem Proletariat jedoch kann seine Partei durch nichts ersetzt werden.[14]
Sowjetrussland und die Strategie der sozialistischen Weltrevolution: Die ersten vier Kongresse der Kommunistischen Internationale, 1919-1922
Die Oktoberrevolution war in jeder Hinsicht ein internationales Ereignis. Einerseits intervenierten mehr als ein Dutzend ausländische Mächte in Russland, um die weiße Armee zu unterstützen und die Arbeiterklasse zu stürzen. Andererseits kam es in den Jahren nach der Oktoberrevolution zu zahlreichen Aufständen und Revolutionen auf der ganzen Welt.
Am bedeutendsten war die Novemberrevolution in Deutschland. Hier bestätigte sich die Bedeutung der revolutionären Partei im Negativen. Der linke Flügel der Sozialdemokratie hatte gezögert, von der SPD und später von der zentristischen USPD zu brechen und eine revolutionäre Partei aufzubauen. Dafür gab es komplexe historische und politische Gründe, aber das Ergebnis war, dass die diskreditierte SPD mithilfe der zentristischen USPD die Arbeiterräte entmachten und die Novemberrevolution erdrosseln konnte.
Schließlich brach der linke Flügel mit der SPD und gründete am 1. Januar 1919 die KPD. Nur zwei Wochen später, inmitten des Spartakusaufstands, wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg auf Geheiß der SPD-Regierung von rechten Freikorps-Soldaten brutal ermordet. Die Bourgeoisie ihrerseits hatte ihre Lektion aus der Oktoberrevolution gelernt. Überall in Berlin hingen Plakate mit der Aufschrift „Schlagt ihre Führer tot!“ Diese Episode ist für die Diskussion über Sicherheit und die Vierte Internationale nicht unerheblich.
Sieben Wochen nach dem Mord an Luxemburg und Liebknecht fand der Gründungskongress der Komintern statt. Lenin und Trotzki zogen aus der Oktoberrevolution und den Erfahrungen in Deutschland den Schluss, dass in jedem Land der Welt Kommunistische Parteien nach dem Vorbild der Bolschewiki aufgebaut werden müssen, um die Ausweitung der Revolution zu ermöglichen und die sozialistische Weltrevolution Wirklichkeit werden zu lassen. Im von Trotzki verfassten Manifest des Gründungskongresses heißt es:
Unsere Aufgabe besteht darin, die revolutionäre Erfahrung der Arbeiterklasse zusammenzufassen, die Bewegung von den zersetzenden Beimischungen des Opportunismus und Sozialpatriotismus zu reinigen, die Kräfte aller wirklich revolutionären Parteien des Weltproletariats zu sammeln und dadurch den Sieg der Kommunistischen Revolution in der ganzen Welt zu erleichtern und zu beschleunigen. (...)
Wenn die Erste Internationale die künftige Entwicklung vorausgesehen und ihre Wege vorgezeichnet, wenn die Zweite Internationale Millionen Proletarier gesammelt und organisiert hat, so ist die Dritte Internationale die Internationale der offenen Massenaktion, die Internationale der revolutionären Verwirklichung, die Internationale der Tat.[15]
Das waren nicht nur Worte. Die Komintern beschloss sehr definitive organisatorische Grundsätze, die jede Halbheit gegenüber den Opportunisten und jeden Zentrismus ausschließen sollten, und die in den 21 Bedingungen für die Mitgliedschaft in der Komintern zum Ausdruck kamen. Im Manifest zum zweiten Kongress, auf dem die Bedingungen beschlossen wurden, hieß es absolut unmissverständlich:
Die Kommunistische Internationale ist die Partei des revolutionären Aufstandes des internationalen Proletariats. Sie schließt alle die Gruppen und Organisationen aus, die in offener und versteckter Form das Proletariat einschläfern, demoralisieren oder schwächen; sie treibt das Proletariat an, sich den Götzen Legalität, Demokratie, nationale Verteidigung u.a., welche die Diktatur der Bourgeoisie verdecken, nicht zu beugen.
Die Kommunistische Internationale kann ebenso in ihre Reihen die Organisationen nicht aufnehmen, die zwar in ihrem Programm die Diktatur des Proletariats anerkennen, aber dennoch eine Politik führen, die mit einer friedlichen Lösung der geschichtlichen Krisis rechnet. Die bloße Anerkennung des Rätesystems löst keine Fragen. Die Organisation der Räteregierung besitzt keine wundertätige Kraft. Die revolutionäre Kraft liegt im Proletariat selbst. Es ist unbedingt notwendig, dass es sich zum Aufstand und zur Erkämpfung der Macht erhebt; nur dann kann die Räteorganisation ihre Vorzüge an den Tag bringen als eine unvergleichliche Waffe in der Hand des Proletariats.[16]
Die unversöhnliche Haltung gegenüber den Opportunisten stand in direktem Wechselverhältnis zum bedingungslosen Internationalismus der Komintern. Schon im Gründungsmanifest wurde der Zusammenhang zwischen Opportunismus und Nationalismus aufgezeigt und dem die Konzeption einer wahrhaft internationalen Partei entgegengesetzt, die nichts anderes zulässt als die unabhängige Linie der Arbeiterklasse. Es heißt dort:
Schon im Jahr 1889 vereinigten sich diese Parteien auf dem Kongress in Paris und schufen die Organisation der Zweiten Internationale. Aber der Schwerpunkt der Arbeiterbewegung lag in dieser Periode gänzlich auf nationalem Boden, im Rahmen der nationalen Staaten, auf der Grundlage der nationalen Industrie, auf dem Gebiet des nationalen Parlamentarismus. Jahrzehnte organisatorischer und reformatorischer Arbeit schufen eine Generation von Führern, die in ihrer Mehrheit das Programm der sozialen Redvolution in Worten anerkannten, in Wirklichkeit aber es verleugneten und in Reformismus und Anpassung an den bürgerlichen Staat versumpften. Der opportunistische Charakter der leitenden Parteien der Zweiten Internationale entpuppte sich endgültig und führte zum größten Zusammenbruch der Weltgeschichte im Moment, als der Lauf der Ereignisse von den Arbeiterparteien revolutionäre Kampfmethoden verlangte. Wenn der Krieg von 1870 der Ersten Internationale einen Schlag versetzte, indem er die Tatsache aufdeckte, dass hinter dem sozialrevolutionären Programm noch keine geschlossene Macht der Massen stand, so tötete der Krieg von 1914 die Zweite Internationale, indem er zeigte, dass über den zusammengeschweißten Arbeitermassen Parteien stehen, die sich in untertänige Organe des bürgerlichen Staates verwandelten.[17]
Die Komintern fasste den Internationalismus nicht einfach als Solidarität zwischen den Arbeitern auf. Sie verstand die Revolution vielmehr als internationalen Prozess, der nur von einem genauen Verständnis der Weltentwicklung und den Erfahrungen der Arbeiterklasse in jedem einzelnen Land als Teil des Erfahrungsschatzes der gesamten Bewegung vollzogen werden konnte. Es war nicht einfach eine internationalistische Perspektive, es war die Perspektive der Weltrevolution. Trotzki führte das hervorragend in seiner Antwort auf den Vorwurf aus, die Bolschewiki zwängen den anderen Komintern-Sektionen die russische Perspektive auf:
Aus unserer Sicht wird die Weltwirtschaft als eine organische Einheit betrachtet, auf deren Grundlage sich die weltweite proletarische Revolution entwickelt; und die Kommunistische Internationale orientiert sich am gesamten Weltwirtschaftskomplex, analysiert ihn mit den wissenschaftlichen Methoden des Marxismus und nutzt alle Erfahrungen vergangener Kämpfe. Dies schließt natürlich nicht aus, sondern setzt vielmehr voraus, dass die Entwicklung jedes Landes ihre eigenen Besonderheiten hat, dass spezifische Situationen ihre Besonderheiten haben und so weiter. Um diese Besonderheiten jedoch richtig einschätzen zu können, ist es notwendig, sie in ihrem internationalen Kontext zu betrachten.[18]
Die gesamte Weltlage über die historischen Erfahrungen der Bewegung in jedem Land verstehen, um die revolutionäre Strategie zu entwickeln, das ist die Konkretisierung von Lenins Aufruf in „Empiriokritizismus“, und es ist bis heute die Grundlage unserer Partei.
Auch hier zog die Komintern sehr definitive organisatorische Schlussfolgerungen. Eine der 21 Bedingungen gebot, unter der Autorität der Komintern und ihres Exekutivkomitees zu arbeiten. Zum ersten Mal war auf diese Weise eine wirklich internationale Partei entstanden. In Vorbereitung auf den zweiten Kongress schrieb Trotzki:
Wir wiederholen: die Kommunistische Internationale ist keine Summe der nationalen Arbeiterparteien. Sie ist die Kommunistische Partei des internationalen Proletariats. Die deutschen Kommunisten haben das Recht, mit aller Schärfe die Frage zu stellen, warum Turati ihrer Partei angehört. Die russischen Kommunisten haben das Recht und die Pflicht, bei Erörterung der Frage über die Aufnahme der USPD und der Französischen Sozialistischen Partei in die III. Internationale derartige Bedingungen zu stellen, die von ihrem Standpunkt aus unsere internationale Partei vor Verwässerung und Zerfall bewahren würden. Eine jede in die Kommunistische Internationale eintretende Organisation erhält ihrerseits das Recht und die Möglichkeit, auf die Theorie und die Praxis der russischen Bolschewiki, der deutschen Spartakisten usw. einzuwirken.[19]
Betrachtet man insgesamt die Manifeste und Diskussionen der ersten vier Kongresse der Komintern, begegnet einem eine Sprache, die einzigartig ist und die sich heute nur bei uns findet: das intensive Bestreben, die objektive Klassendynamik und Weltentwicklung zu durchdringen und gleichzeitig alle Texte direkt auf den Kampf auszurichten, um in diese Entwicklung mit aller Macht einzugreifen. Jederzeit kompromisslos gegenüber allen Versuchen, das Programm zu verwässern und sich dem nationalen Druck anzupassen.
Auf dem dritten und vierten Kongress stellte die Komintern fest, dass der revolutionäre Ansturm zeitweilig abgeebbt war, legte aber gründliche Analysen vor, weshalb der Kapitalismus nicht zur Vorkriegsstabilität zurückkehren könne, da neue Stürme bevorstanden. Unter diesen Bedingungen richtete die Komintern große Aufmerksamkeit auf die Frage, wie die Kommunistischen Parteien in den Gezeiten des Klassenkampfs manövrieren, das Vertrauen der Klasse gewinnen und die Arbeitermassen von den reformistischen Organisationen brechen könnten. Trotzki fasste die Bedeutung des dritten Kongresses so zusammen:
Der Dritte Kongress hat den weiteren Zerfall der wirtschaftlichen Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft zur Kenntnis genommen. Aber er hat gleichzeitig die fortgeschrittenen Arbeiter eindringlich vor jeder naiven Vorstellung gewarnt, dass daraus automatisch der Untergang der Bourgeoisie durch eine ununterbrochene Offensive des Proletariats folgt. Nie zuvor war der Klasseninstinkt der Bourgeoisie zur Selbsterhaltung mit so vielfältigen Verteidigungs- und Angriffsmitteln ausgerüstet wie heute. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Sieg der Arbeiterklasse sind gegeben. Gelingt dieser Sieg nicht, und kommt er nicht in mehr oder weniger naher Zukunft, ist die gesamte Zivilisation von Niedergang und Entartung bedroht. Dieser Sieg kann jedoch nur durch geschickte Führung der Kämpfe und vor allem durch die vorherige Gewinnung der Mehrheit der Arbeiterklasse errungen werden. Das ist die wichtigste Lehre des Dritten Kongresses.[20]
Diese Frage der Führung sollte sich schon bald erneut zuspitzen, als sich in Deutschland 1923 eine revolutionäre Situation entwickelte. Die Diskussionen, die dann in der Komintern stattfanden, waren bereits Ausdruck der wachsenden Konflikte zwischen den Marxisten und der erstarkenden Bürokratie in der Sowjetunion. Doch das ist Thema des nächsten Vortrags.
Ich möchte abschließend festhalten, dass trotz internationalen Terrors und historischen Verleumdungen Stalin nicht in der Lage war, diese Tradition auszulöschen. Sie lebt in unserer Bewegung fort. Mit der Untersuchung Sicherheit und Vierte Internationale verstärkte die Workers League nicht nur die Verbindungen zu dieser Geschichte, sie führte sie auch in bester Tradition fort, indem sie das Feuer auf die Stalinisten und Imperialisten und vor allem auch auf die Revisionisten richtete und die historische Bedeutung dieses Kampfes verstand. Sie wies nach, dass sich die Pablisten in jeder Hinsicht vom revolutionären Kampf für die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse, von der Tradition der Oktoberrevolution und der Komintern verabschiedet hatten.
Mehr lesen
David North und Joseph Kishore, „Der Sozialismus zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution: 1917–2017“, in: Vortragsreihe des IKVI, Warum die Russische Revolution studieren, Bd. 1, Essen 2017, S. 29.
https://www.wsws.org/de/articles/2017/01/04/russ-j04.html
W.I. Lenin, „Empiriokritizismus und historischer Materialismus“, in: Werke, Band 14, Berlin 1962, S. 328–329
Joseph Kishore, „Spontaneität und Bewusstsein in der Februarrevolution“, in: Vortragsreihe des IKVI, Warum die Russische Revolution studieren, Bd. 1, Essen 2017, S. 132
David North, Verteidigung Leo Trotzkis, 2. erweiterte Auflage, Essen 2012, S. 39–40
Zitiert nach: David North, „‘Zeugen der Permanenten Revolution‘: Ein bedeutender Beitrag zum Studium der politischen Strategie des Marxismus“, in: Ders., Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert, Essen 2015, S. 324
Leo Trotzki, „Unsere Meinungsverschiedenheiten“, in: Die russische Revolution 1905, Berlin 1972, S. 231
Zitiert nach: David North, „‘Zeugen der Permanenten Revolution‘: Ein bedeutender Beitrag zum Studium der politischen Strategie des Marxismus“, in: Ders., Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert, Essen 2015, S. 335–336
Leo Trotzki, Die permanente Revolution, Essen 2016, S. 264–265
David North, „Ein Beitrag zur Neubewertung von Vermächtnis und Stellenwert Leo Trotzkis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts“, 6. Juli 2001, leicht geändert in: Ders., Verteidigung Leo Trotzkis, 2. erweiterte Auflage, Essen 2012, S. 45. https://www.wsws.org/de/articles/2001/07/trot-j06.html
David North, „Warum die russische Revolution studieren“, in: Vortragsreihe des IKVI, Warum die russische Revolution studieren, Bd. 1, Essen 2017, S. 53–54
W.I. Lenin, „Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution“, in: Werke, Bd. 24, Berlin 1959, S. 51–52
W.I. Lenin, „Eine der Kernfragen der Revolution“, in: Werke, Bd. 25, Berlin 1974, S. 378–380
David North, „Warum die russische Revolution studieren“, in: Vortragsreihe des IKVI, Warum die russische Revolution studieren, Bd. 1, Essen 2017, S. 38
Leo Trotzki, 1917. Die Lehren des Oktobers.
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1924/lehren/einleit.htm
Die Kommunistische Internationale, Bd. 1, Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen, 1. und 2. Weltkongress 1919 /1920, Köln 1984, S.23–24, 37
A.a.O., S. 267
A.a.O., S. 35–36
Leo Trotzki, „On the Policy of the KAPD“, in: The First Five Years of the Communist International, Vol. 1, (aus dem Englischen). https://www.marxists.org/archive/trotsky/1924/ffyci-1/ch13.htm
Leo Trotzki, „Zum bevorstehenden Kongress der Kommunistischen Internationale“, in: Fünf Jahre Komintern, Bd. 1.
https://www.sozialistischeklassiker2punkt0.de/sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1920/leo-trotzki-zum-bevorstehenden-kongress-der-kommunistischen-in-ternationale.html
Leo Trotzki, „The Main Lesson of the Third Congress“,in: The First Five Years of the Communist International, Vol. 1, (aus dem Englischen).
https://www.marxists.org/archive/trotsky/1924/ffyci-1/ch25.htm