Perspektive

„Mit Trotzkis Tod verlor die Arbeiterklasse einen Strategen von unvergleichlicher Genialität“

Zum 85. Jahrestag der Ermordung von Leo Trotzki

„Der 85. Jahrestag der Ermordung von Leo Trotzki: Historische Bedeutung und anhaltende Folgen“ – so lautete der Titel einer Veranstaltung, die am 16. August auf der türkischen Insel Büyükada (Prinkipo) stattfand, auf der Leo Trotzki in den Jahren 1929 bis 1933 im Exil lebte. Die Veranstaltung wurde von der World Socialist Web Site und dem Verlag Mehring Yayıncılık in Zusammenarbeit mit der Kommune Adalar (Prinzeninseln) ausgerichtet. David North, der Leiter der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, war online zugeschaltet und wurde von Ulaş Ateşçi interviewt. Ateşçi ist ein führendes Mitglied der Sozialistischen Gleichheitsgruppe in der Türkei, die in politischer Solidarität mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale steht. Die Abschrift wurde aus Gründen der Lesbarkeit leicht redigiert.

Ulaş Ateşçi: Vor 85 Jahren, am 20. August 1940, wurde Leo Trotzki ermordet. In deinen Schriften bezeichnest du das Attentat als das politisch folgenreichste des 20. Jahrhunderts. Was genau meinst du damit?

David North: Um die Bedeutung der Ermordung Trotzkis zu verstehen, muss man seinen Platz in der Weltgeschichte, seine Bedeutung und die gesellschaftlichen Kämpfe verstehen, mit denen er identifiziert wurde. Leo Trotzki verkörperte die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse für den Sozialismus. Seine Ermordung war der Höhepunkt eines verbrecherischen Angriffs auf die Arbeiterklasse im Weltmaßstab. Nazismus und Stalinismus waren verschiedene Formen, in denen die Reaktion gegen die Oktoberrevolution zum Ausdruck kam. Trotzki verkörperte diese große Revolution, die den Gipfel eines enormen sozialen, politischen und intellektuellen Fortschritts der Menschheit darstellt, der sich bis zur Aufklärung und sogar bis zur Renaissance zurückverfolgen lässt. Die Ermordung Trotzkis im Jahr 1940 war der Höhepunkt eines politischen Völkermords, der die Blüte der sozialistischen Kultur auslöschte. Mit seiner Ermordung verschwand ein Mensch von der Bildfläche, der als Politiker und Theoretiker unersetzlich war.

Wenn ich eine Analogie verwenden darf: Was wäre aus der Musik geworden, wenn Mozart, Bach oder Beethoven auf dem Höhepunkt ihres Schaffens gewaltsam beseitigt worden wären; oder was aus der Wissenschaft ohne Newton und Einstein? Dieselbe Statur hat Trotzki auf dem Gebiet der Politik. Mit seinem Tod verlor die Arbeiterklasse einen Strategen von unvergleichlicher Genialität. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass wir 85 Jahre nach seinem Tod noch immer mit den Folgen seines Todes und mit den Folgen der Vernichtung der Generation der Revolutionäre zu tun haben, die im Europa der 1930er und 1940er Jahre in Russland lebte.

Trotzki sagte, die Krise der Menschheit läuft auf die Krise der Führung der Arbeiterklasse hinaus. Diese Krise ergab sich aus der Zerstörung der bolschewistischen Revolution und der großen russischen und europäischen sozialistischen Kultur, die ihren Ursprung im Werk von Marx und Engels hatte. Wenn wir also sagen, dass Trotzkis Ermordung das folgenreichste politische Attentat des vergangenen Jahrhunderts war, dann meine ich das in diesem Sinne: Der politische Nachhall dieses Attentats begleitet uns bis heute, und im Gedenken an dieses Attentat verpflichten wir uns erneut zum Aufbau der Führung, für die Trotzki und Lenin gekämpft haben und die sich 1917 den Anforderungen gewachsen zeigte, die sich aus der Krise des Kapitalismus ergaben. So kann ich vielleicht am besten erklären, was ich meinte, als ich schrieb, dass das Attentat auf Trotzki das folgenreichste war.

Lenin bei einer Rede vor revolutionären Arbeitern in Petrograd im Jahr 1920. Trotzki steht rechts auf den Stufen.

Ulaş Ateşçi: Warum war es für Stalin notwendig, Trotzki zu töten? War es lediglich ein politischer Racheakt gegen einen alten politischen Gegner, oder hatte Stalin wirklich Grund, Trotzki zu fürchten?

David North: Sicherlich war es ein politischer Racheakt. Stalin war ein politischer Verbrecher. Er ermordete nicht nur seine politischen Gegner. Er tötete ihre Familien, ihre Freunde, ihre Mitarbeiter. Aber in politischer Hinsicht war die Entscheidung, Trotzki zu ermorden, von der immensen Furcht Stalins vor dem politischen Einfluss Trotzkis in der Welt und auch in der Sowjetunion selbst bestimmt.

Stalin hatte an der Oktoberrevolution teilgenommen. Er hatte miterlebt, wie sich eine Krise auf das Bewusstsein der Massen auswirkt. Und aufgrund der Erfahrung der Russischen Revolution von 1917, die mitten im Ersten Weltkrieg ausbrach, wusste er sehr genau, dass eine Krise ähnlichen Ausmaßes eine gewaltige Radikalisierung der Arbeiterklasse hervorrufen könnte, in der sich die Position Trotzkis von Grund auf verändern würde. Er bildete sich nie ein, dass Trotzki nur ein isolierter und hilfloser Exilant war. Es mag heute viele kleinbürgerliche Akademiker geben, die so etwas schreiben, aber es entspricht nicht der politischen Realität.

Trotzki wurde 1940 getötet. Der Zweite Weltkrieg hatte bereits begonnen, die Katastrophe nahm ihren Lauf. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die katastrophalen Folgen von Stalins Politik – sein Verrat in ganz Europa, in Deutschland, in Frankreich, in Spanien – deutlich machen würden, dass er dem Einmarsch der Nazis in die Sowjetunion Tür und Tor geöffnet hatte. Stalin hatte die Oktoberrevolution erlebt und wusste, dass mit dem Herannahen des Krieges und mit der Krise, die dieser innerhalb der Sowjetunion auslösen würde, insbesondere unter den Bedingungen einer drohenden Katastrophe, die gesamte unterdrückte Unterstützung für Trotzki sich sehr plötzlich Bahn brechen könnte.

Immerhin lebte Trotzki im Bewusstsein der Arbeiterklasse fort als Gründer und Führer der Roten Armee, als brillanter Stratege, der im Bürgerkrieg von 1918 bis 1921 die imperialistischen Armeen besiegt hatte. Der berühmte sozialistische Schriftsteller Victor Serge erklärte in seinem Buch Destin d’une révolution (Schicksal einer Revolution), dass bei den ersten Erschütterungen des Krieges Millionen in der Sowjetunion sofort an den „Organisator des Sieges“, Leo Trotzki, denken würden. Deshalb sah Stalin in der Ermordung Trotzkis eine politische Notwendigkeit für das reaktionäre bürokratische Regime, an dessen Spitze er stand.

Trotzki als Oberbefehlshaber der Roten Armee zur Zeit des Bürgerkriegs, nach der Oktoberrevolution

Doch Stalin war nicht der einzige reaktionäre Führer, der Trotzki fürchtete. 1940 kam es zu einem sehr bekannten Wortwechsel zwischen Hitler und dem französischen Botschafter Coulondre. Coulondre sagte sinngemäß zu Hitler: „Trotz Ihrer militärischen Siege in Frankreich, ist es Ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass im Fall eines Krieges der wahre Sieger Trotzki sein könnte?“ Hitler erschrak und antwortete: „Ich weiß, aber warum haben Sie mich zum Krieg gedrängt? Warum haben Sie keine Kompromisse gemacht?“ Als Trotzki aus einer französischen Zeitung von diesem Gespräch erfuhr, sagte er sinngemäß: „Was diese Herren als reaktionäre Vertreter der Barbarei fürchten, ist das Herannahen der Revolution, und sie geben dieser Revolution meinen Namen.“ Die Ermordung Trotzkis war eine präventive Antwort des stalinistischen Regimes und der weltweiten Reaktion auf das Gespenst der sozialistischen Revolution. Das ist der eigentliche Grund für die Ermordung Trotzkis.

Ulaş Ateşçi: Die Ermordung Trotzkis war der Höhepunkt eines politischen Völkermords in der UdSSR, der mit der Lüge gerechtfertigt wurde, Trotzki und seine Anhänger seien Agenten Hitlers. Heute werden diese Lügen von stalinistischen und pseudolinken Organisationen wiederholt. Was sagst du dazu?

David North: Wer diese Lügen wiederholt, entlarvt sich selbst als Lügner. Die von Stalin begangenen Verbrechen sind so gründlich dokumentiert, und die Verlogenheit der Anschuldigungen, die gegen Trotzki und praktisch die gesamte Führung der bolschewistischen Partei erhoben wurden, wurde so umfassend entlarvt, dass diejenigen, die diese Lügen heute wiederholen, derselben Kategorie zuzurechnen sind wie Leute, die den von den Nazis verübten Holocaust leugnen.

Stalin beschuldigte praktisch die gesamte damals noch lebende Führung der bolschewistischen Revolution, Agenten des Faschismus und Instrumente des Hitler-Regimes zu sein. Aber 1939, nachdem er seinen Terror gegen die sozialistische Arbeiterklasse und die Intelligenz der Sowjetunion vollendet hatte, war Stalin derjenige, der einen Pakt mit Hitler schloss. In den folgenden zwei Jahren bis zum Einmarsch der Nazis in die Sowjetunion im Juni 1941 war es den Mitgliedern der kommunistischen Parteien in Westeuropa nicht gestattet, schlecht über das Hitler-Regime zu reden.

Stalin und Ribbentrop nach der Unterzeichnung des Nichtangriffspakts am 23. August 1939 im Kreml [Photo by Bundesarchiv, Bild 183-H27337 / undefined]

Trotzki warnte, dass der Stalinismus zur Zerstörung der Sowjetunion führen und dass die Bürokratie den Kapitalismus wiederherstellen würde. Genau so ist es im Jahr 1991 gekommen. Die Wiederholung von Stalins Lügen kann also nur von denen ausgehen, die sein reaktionäres Programm unterstützen, die reaktionäre kleinbürgerliche Nationalisten sind und die dem Programm des sozialistischen Internationalismus, für das Trotzki gekämpft hat, von Grund auf feindlich gegenüberstehen.

Natürlich kann man mit aufrichtigen Intellektuellen eine legitime Diskussion und innerhalb der Arbeiterklasse eine breite Diskussion über die Geschichte der Russischen Revolution, über die Komplexität dieser Geschichte führen. Aber alle diese Diskussionen müssen auf der Wahrheit, auf Fakten beruhen. Darin ist kein Platz für diejenigen, die erbärmliche Lügen verbreiten, Massenmord rechtfertigen und es fertigbringen, Stalin in einen politischen Helden zu verwandeln. Solche Leute befinden sich nicht im Lager des Sozialismus, sondern im Lager des reaktionären Nationalismus, das heißt tatsächlich im Lager Putins und der russischen Nationalisten, die sich nicht auf die Oktoberrevolution, sondern auf die reaktionären Traditionen des Zarismus stützen, der 1917 von der russischen Arbeiterklasse gestürzt wurde.

Der russische Präsident Wladimir Putin auf dem Parteitag von „Einiges Russland“ in Moskau, 14. Dezember 2024 [AP Photo/Sergei Bobylev]

Ulaş Ateşçi: Am 24. Mai 1940 war ein erstes Attentat auf Trotzki verübt worden. Kannst du etwas zu diesem Angriff und zu Trotzkis Reaktion sagen?

David North: Am Abend des 24. Mai 1940 gewährte der diensthabende Wachmann, ein Amerikaner namens Robert Sheldon Harte, einer stalinistischen Mörderbande unter Führung des Malers David Alfaro Siqueiros in den frühen Morgenstunden Zugang zu Trotzkis Villa in Coyoacán. Später stellte sich heraus, dass Harte ein stalinistischer Agent war. Er öffnete das Tor, und die Bande drang mit Maschinengewehren und Brandbomben bewaffnet in das Anwesen ein, gelangte in Trotzkis Schlafzimmer und eröffnete das Feuer. Erstaunlicherweise gelang es Trotzki und seiner Frau, sich aus dem Bett zu rollen. Die Maschinengewehre waren etwas nach oben gerichtet, und die Schüsse trafen das Bett und die Wand. Es war dunkel, und wie durch ein Wunder gelang es ihnen nicht, Trotzki zu töten. Bei diesem Angriff wurde Trotzkis Enkel Sewa Wolkow, der erst 14 Jahre alt war, am Zeh verwundet. Es war jedoch keine schwere Verletzung. Die Attentäter zogen sich wieder zurück.

Trotzkis Schlafzimmer in Coyoacán nach dem Angriff vom 24. Mai 1940. Die Tür und die Wände sind von Schüssen durchlöchert.

Trotzki verließ sofort das Zimmer. Er erlebte nicht zum ersten Mal, dass auf ihn geschossen wurde. Er kannte diese Erfahrung und machte sich auf die Suche nach seiner Wache, die leider ausschließlich aus Amateuren bestand. Auf einen solchen Angriff war sie nicht vorbereitet. Später erzählte mir ein Überlebender dieses Angriffs, der Leiter von Trotzkis Wache, Harold Robins, dass Trotzki, nachdem er sie gefunden hatte, offensichtlich enttäuscht darüber war, dass sie nicht reagiert und jedenfalls nichts weiter unternommen hatten.

Kurz darauf merkten sie, dass Harte verschwunden war. Es war nicht klar, ob er entführt worden oder freiwillig gegangen war, d. h., ob er an der Verschwörung beteiligt oder lediglich deren Opfer war. Kurze Zeit später wurde seine Leiche gefunden, und trotz der Zweifel an seiner Rolle glaubte man zunächst, dass er entführt und ermordet worden sei. Trotzki bezeichnete es allerdings als nicht ausgeschlossen, dass er ein Agent war. Später bekannt gewordene Informationen, insbesondere Dokumente, die nach der Auflösung der Sowjetunion ans Tageslicht kamen, beweisen eindeutig, dass Harte als GPU-Agent an dem Mordkomplott beteiligt gewesen war.

Auch hier ist es wichtig, auf den Zeitpunkt zu achten. Das Attentat im Mai 1940 fand vor dem Hintergrund des Einmarsches der Nazis in Frankreich statt. Stalin hoffte, dass sich die öffentliche Meinung auf die Eskalation des Krieges konzentrieren würde und die Ermordung Trotzkis nicht die internationalen Schlagzeilen beherrschen würde. Nach dem Anschlag widmete Trotzki zunächst einen großen Teil seiner Zeit der Aufdeckung der Verschwörung. In einem sehr beeindruckenden Essay mit dem Titel „Stalin trachtet nach meinem Leben“ schrieb er „Ich lebe auf dieser Erde nicht in Übereinstimmung mit der Regel sondern als Ausnahme von der Regel.“

Die Stalinisten und ihre Anhänger unter den kleinbürgerlichen Intellektuellen und prinzipienlosen Kreisen verstiegen sich sogar zu der Behauptung, dass Trotzki den Anschlag selbst organisiert habe und es sich gar nicht um ein echtes Attentat gehandelt habe. Trotzki hat diese Lüge gründlich entlarvt, und die Ereignisse vom 20. August haben natürlich bewiesen, wie ungeheuerlich sie war. Er schrieb noch einen weiteren Artikel, „Die GPU und die Komintern“, in dem er aufzeigte, in welchem Ausmaß die kommunistischen Parteien in der ganzen Welt, d. h. die stalinistischen Parteien, unter der Kontrolle der Sowjetbürokratie standen.

Trotzki wusste, dass es einen weiteren Anschlag auf sein Leben geben würde. Als ich 1976 in Mexiko war, um Informationen über die Ermordung Trotzkis zu sammeln, erinnerte sich ein Journalist, der mit Trotzki bekannt gewesen war, dass dieser in einem Gespräch wenige Tage vor seiner Ermordung gesagt hatte: „Es wird noch ein weiteres Attentat auf mich geben. Entweder durch jemanden, den ich kenne, oder durch jemanden, der Zutritt zur Villa hat.“ Der Journalist erzählte mir, dass er Trotzki sehr mochte, großen Respekt vor ihm hatte und sehr deprimiert über seine Worte war. Aber Trotzki habe lächelnd geantwortet: „Wissen Sie, was auch immer passiert, ich werde trotzdem siegen. Und wissen Sie auch, warum?“ Der Journalist fragte nach dem Grund, woraufhin Trotzki dicht an ihn herantrat und ihm ins Ohr flüsterte: „Weil ich viel klüger bin als Stalin.“

Natürlich wollte Trotzki damit sagen, dass er auf die politische Perspektive vertraute, für die er kämpfte, und dass Stalin, welche vorübergehenden Erfolge er auch haben mochte, über keine Perspektive verfügte. Um eine Metapher zu verwenden, die Trotzki zuvor auf die Gegner der Revolution angewandt hatte: Stalin würde auf dem Müllhaufen der Geschichte landen.

Ulaş Ateşçi: Es wurde behauptet, dass die Ermordung Trotzkis unvermeidlich war. Stimmst du mit dieser Einschätzung überein, oder hätte man den Mord verhindern können?

David North: Das ist eine komplizierte Frage, und es hängt davon ab, was man unter „unvermeidlich“ versteht. Wenn man von einem historischen Prozess spricht, gibt es natürlich Unvermeidbarkeiten. Der Klassenkampf in der kapitalistischen Gesellschaft ist unvermeidlich. Revolution und Konterrevolution ergeben sich unvermeidlich aus den Widersprüchen dieses Systems. Krieg und der Kampf gegen Krieg ergeben sich unvermeidlich aus der Geopolitik des Weltkapitalismus. Aber wenn man von einem bestimmten Ereignis spricht, dann muss man den Begriff „Unvermeidbarkeit“ natürlich mit viel größerer Sorgfalt verwenden. Es war unvermeidlich, wie von Trotzki vorausgesehen, dass ein Anschlag auf sein Leben verübt werden würde. Es war unvermeidlich, dass die sowjetische Bürokratie versuchen würde, Trotzki zu ermorden. War es unvermeidlich, dass der Versuch gelingen würde? Nein, das war es nicht. Der Anschlag vom 24. Mai 1940 scheiterte, und es war nicht unvermeidlich, dass der Versuch am 20. August 1940 gelingen würde. Er gelang, weil selbst die elementarsten Sicherheitsvorkehrungen fehlten.

Mexikanische Polizisten mit dem Eispickel, der Mordwaffe Mercaders

Der Attentäter Ramón Mercader war von einem Agenten in Trotzkis Haushalt eingeschleust worden. Er traf am 20. August am späten Nachmittag vor der Villa in Coyoacán ein. Es war ein sonniger Tag, aber er trug einen Regenmantel. Trotzki war erst drei Tage zuvor mit Mercader zusammengetroffen und hatte sein Misstrauen gegenüber dieser Person geäußert. Er hatte sogar erklärt, dass er ihn nicht noch einmal sehen wolle, aber seine Wachleute reagierten nicht darauf. Wie sich später herausstellte, war insbesondere Trotzkis wichtigster Sekretär in Coyoacán, Joseph Hansen, selbst ein stalinistischer Agent. Als Mercader mit einem Regenmantel ankam, wurde er nicht durchsucht. In diesem Regenmantel versteckte er eine automatische Pistole, einen Eispickel und ein Messer. Wäre ihm der Regenmantel abgenommen worden, hätte das Attentat nicht stattgefunden. Aber es kam anders, und er durfte allein mit Trotzki in dessen Arbeitszimmer gehen, wo der Angriff stattfand.

Die Ermordung an diesem Tag war also nicht unvermeidlich. Sie hätte verhindert werden können. Aus dieser Erfahrung müssen Lehren gezogen werden, und das haben wir versucht. Politische Sicherheit ist ein sehr wichtiges Thema, und keine Partei, die die Frage des Kampfs gegen die imperialistische Reaktion ernst nimmt, darf sie ignorieren. Es ist also wichtig zu verstehen, dass zwar die Attentate auf Trotzki unvermeidlich waren, nicht aber ihr Gelingen.

Wir sind Marxisten, keine Fatalisten. Es gibt historische Gesetze, aber diese historischen Gesetze führen nicht zu einem vorbestimmten Ausgang, und das ist wichtig für das Verständnis der heutigen politischen Situation. In gewissem Sinne führt die Entwicklung des Kapitalismus, die Entwicklung des Imperialismus, zu Völkermord, Faschismus und Atomkrieg. Sie führt aber auch zur sozialistischen Revolution. Die Frage ist also, welche dieser Tendenzen überwiegen wird, die Tendenz zur Zerstörung oder die Tendenz zur Revolution. Das ist die entscheidende Frage.

Und das bringt uns zur wichtigen Frage der politischen Führung. Als Marxisten sind wir davon überzeugt, dass dieselben Tendenzen, die die Menschheit zu vernichten drohen, auch die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in sich tragen. In diesem Sinne sind wir historische Optimisten. Eine Revolution ist möglich. Ihr Sieg ist möglich. Aber darauf ruhen wir uns nicht aus. Wir wissen, dass die Gefahr einer Katastrophe sehr groß ist, wenn wir nicht kämpfen und nicht so handeln wie notwendig, wenn wir kein richtiges politisches Programm haben und dieses Programm der Arbeiterklasse nicht vermitteln können. Deshalb kämpfen wir für den Aufbau einer revolutionären Führung.

Ulaş Ateşçi: Du bist nun schon seit 55 Jahren im Kampf für die sozialistische Revolution aktiv. Wie hast du dir angesichts so vieler Jahrzehnte politischer Reaktion deinen Optimismus und deine Entschlossenheit bewahrt?

David North: Der große Vorteil des Marxismus ist, dass er die objektive Realität wissenschaftlich und nicht impressionistisch betrachtet und analysiert. Ein Marxist begreift, dass die Erscheinungsformen widersprüchlich sind, und dass das, was als Herrschaft der Reaktion erscheint, auch die Möglichkeit der Revolution in sich birgt. Als ich 1971 der trotzkistischen Bewegung beitrat, wurde die Sowjetunion von vielen als allmächtig angesehen. Die kommunistischen Parteien zählten Millionen Mitglieder, doch ihr Einfluss beruhte auf einer falschen Politik, die sich als nicht tragfähig erwies. Alles, was geschehen ist, sei es der Zusammenbruch der Sowjetunion oder die Restauration des Kapitalismus in China, hat die trotzkistische Perspektive bestätigt. Unsere Perspektive war richtig; es war eine zutreffende Analyse der objektiven Situation.

Zwar haben zunächst die Kräfte der politischen Reaktion von den Entwicklungen profitiert, doch es sind auch andere Prozesse im Gange. Revolutionen finden nicht statt, weil alles wunderbar läuft und die Menschen einfach beschließen, dass sie etwas ändern wollen, damit es noch ein bisschen besser wird. Revolutionen kündigen sich nicht wie Geburtstagspartys an, bei denen jeder eine Einladung erhält und aufgefordert wird, zur Geburtstagsfeier zu kommen. Revolutionen sind immer unerwartet. Sie erscheinen immer als unmöglich, weil sie im Allgemeinen dann eintreten, wenn die Reaktion in gewissem Sinne ihr äußerstes Stadium erreicht hat. Das war in Frankreich 1789 der Fall, und sicherlich auch in Russland 1917.

Eine Sitzung des Petrograder Soldatenrats während der Revolution 1917

Die heutige Weltlage zeigt erneut die völlige Unfähigkeit des Kapitalismus, die enormen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme unserer Zeit zu bewältigen. Es ist ein System, das in jeder Hinsicht bankrott ist. Niemand kann glauben, dass ein Atomkrieg eine brauchbare Lösungsalternative für die Probleme der Menschheit ist oder dass sich große Teile der Menschheit mit Völkermord abfinden werden. Der Widerstand wächst überall, aber er muss sich mit der richtigen politischen Perspektive verbinden. Wir stehen am Vorabend der größten revolutionären Explosionen in der Geschichte, und die Grundlage des Optimismus besteht meiner Meinung nach darin, die Macht dieser objektiven Tendenzen zu erkennen.

Wie gesagt, die Geschichte bringt uns die Revolution nicht als hübsch verpacktes Geburtstagsgeschenk. Wir müssen aus der objektiven Situation das revolutionäre Potenzial herausschälen und unser Handeln darauf basieren. Das ist die entscheidende Frage. Ich denke, dass Massen von Menschen nach den Erfahrungen, die sie durchlebt haben – der Bankrott der Sozialdemokratie, des Stalinismus, des bürgerlichen Nationalismus –, jetzt vielleicht die Notwendigkeit erkennen, zur authentischen Theorie und Praxis der sozialen Revolution zurückzukehren.

Sie werden ihre Lehren ziehen und sich dabei wieder auf Marx, Engels, Lenin und Trotzki und auf deren zeitgenössische Ausprägung stützen: den Marxismus des 21. Jahrhunderts, den Trotzkismus und das Programm des Internationalen Komitees der Vierten Internationale. Von dieser Perspektive bin ich überzeugt, und deshalb sind meine Genossinnen und Genossen und ich sehr optimistisch, dass es in der Arbeiterklasse in der nächsten Entwicklungsphase zu einer gewaltigen Verschiebung hin zur sozialen Revolution kommen wird. Und ich denke, dass wir vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft eine weitere Feier auf Büyükada abhalten werden, und dass dann die Verwirklichung dieser Perspektive schon viel weiter vorangeschritten ist.

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