Für das Gipfeltreffen, das am Montag in Washington stattfand, findet sich keine historische Parallele. Mit einer Vorankündigung von nur 24 Stunden reisten die Regierungschefs der vier wirtschaftsstärksten europäischen Länder, die Chefin der EU-Kommission und der Generalsekretär der NATO in die amerikanische Hauptstadt, um dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj beim Treffen mit US-Präsident Trump den Rücken zu stärken.
Einen Aufmarsch derart vieler hochrangiger Politiker findet man sonst – außer bei monatelang vorbereiteten regulären Gipfeltreffen – nur bei Staatsbegräbnissen. Das Treffen in Washington könnte tatsächlich der Auftakt zu einem Begräbnis sein: zum Begräbnis der NATO, die seit 76 Jahren das transatlantische Verhältnis bestimmt.
Die bizarre Fassade des Treffens – die Lobhudeleien und Demutsgesten gegenüber Trump, die krampfhaften Bemühungen der Europäer, geschlossen aufzutreten, die Beteuerungen, man sei sich einig und wolle nur Frieden – verdeckte die tiefen Risse im Gemäuer der NATO. Tatsächlich waren die Gegensätze noch nie so scharf.
Während die europäischen Regierungschefs vor Trump, einer weltweit verachteten Figur, krochen und buckelten wie in einer Komödie von Molière, konnten sie vor dem Weißen Haus die schwer bewaffneten Soldaten sehen, die Trump in die Hauptstadt geholt hat, um zu demonstrieren: „Ich bin hier Diktator.“
Was die europäischen Regierungschefs bewog, ihren Urlaub abzubrechen und Hals über Kopf nach Washington zu fliegen, war die Angst, Trump könnte sich auf ihre Kosten mit dem russischen Präsidenten Putin einigen.
Seit Jahren haben sie enorme Mittel investiert, um die Ukraine aufzurüsten und Russland in die Enge zu treiben. Den russischen Präsidenten Putin haben sie als Inkarnation des Bösen verteufelt, mit dem man nicht verhandeln könne, weil er nur die Sprache der Gewalt verstehe.
Sie wähnten sich dabei, zumindest solange Joe Biden im Weißen Haus saß, in Übereinstimmung mit den USA. Laut den Zahlen des Kiel Institute (IFW) hat Europa die Ukraine seit Kriegsbeginn vor dreieinhalb Jahren mit Militär- und Finanzhilfen von 167 Milliarden Euro unterstützt und weitere 90 Milliarden zugesagt. Die USA gaben 114 Milliarden und sagten weitere 4 Milliarden zu.
Am Anfang waren die USA die treibende Kraft. Selbst Deutschland, hinter den USA größter Geldgeber der Ukraine, zögerte lange, den Bezug von preisgünstigem Erdgas aus Russland einzustellen, bis ihm schließlich amerikanischer Druck und die Sprengung der Nord Stream-Pipelines keine andere Wahl ließ.
Doch nun vollzieht Trump eine Kehrtwende der US-Außenpolitik. Am Freitag empfing er Putin mit offenen Armen in Alaska und vereinbarte Verhandlungen über eine Beendigung des Kriegs. Trump verspricht sich davon Zugang zu strategischen Rohstoffen in Russland und der Ukraine, eine Schwächung der europäischen Rivalen, gegen die er bereits Strafzölle verhängt hat, und die Unterminierung des Bündnisses zwischen Russland und China. Die USA wären in der Lage, ihre militärischen Kräfte noch stärker als bisher auf die Vorbereitung eines Kriegs gegen China zu konzentrieren.
Seit dem Treffen von Trump und Putin stehen die Leitungen zwischen Kiew, Brüssel, Berlin, Paris und London nicht mehr still. Die Europäer fühlen sich hintergangen. Ihr Ziel, die Ukraine und Russland mit amerikanischer Unterstützung unter ihre Kontrolle zu bringen, hat sich als katastrophale Fehlkalkulation erwiesen.
Noch sind die Europäer zu schwach, den Krieg gegen Russland ohne Unterstützung der USA weiterzuführen. Die Ukraine selbst hat in jüngster Zeit herbe Gebietsverluste erlitten, leidet an Soldatenmangel und die öffentliche Stimmung kippt. Einer jüngsten Gallup-Umfrage zufolge sind 69 Prozent der Ukrainer für einen schnellen Verhandlungsfrieden, während nur noch 24 Prozent weiterkämpfen wollen. Vor drei Jahren war das Verhältnis noch umgekehrt.
Unter diesen Umständen versuchen die Europäer, Trump, dessen Kurs auch in den USA umstritten ist, in ihrem Sinne zu beeinflussen. Diesem Zweck diente die Reise nach Washington. Gelingt es nicht, Trump vom Rückzug aus dem Krieg abzuhalten, dann soll die Ukraine wenigstens zu einer schwer bewaffneten Festung ausgebaut werden, die den Druck auf Russland aufrechterhält.
Doch das Treffen brachte keine Einigung. Die Europäer werteten es schon als Erfolg, dass es nicht zum Eklat kam und sie nicht, wie Selenskyj vor sechs Monaten, aus dem Weißen Haus geworfen wurden. „Es hätte ganz anders verlaufen können,“ kommentierte Bundeskanzler Merz hinterher.
Als Merz vor laufenden Kameras die europäische Forderung wiederholte, Russland müsse vor Beginn von Verhandlungen einem Waffenstillstand zustimmen, bügelte Trump ihn brüsk ab. „Ich sage es noch einmal, in den sechs Kriegen, die ich beigelegt habe, gab es keinen Waffenstillstand,“ erwiderte er.
Die Europäer hatten Hoffnung geschöpft, als Trump und sein Sondergesandter Steve Witkoff bekannt gaben, Putin sei bereit, westliche Sicherheitsgarantien für die Ukraine zu akzeptieren, und die USA würden solche Garantien in irgendeiner Form unterstützen. Doch es stellte sich schnell heraus, dass der Begriff „Sicherheitsgarantien“ völlig unterschiedlich interpretiert wird.
Eine Aufnahme der Ukraine in die NATO hat Trump bereits abgelehnt. Eine Beistandsklausel für die Ukraine, wie sie sich die NATO-Staaten mit dem Artikel 5 gegenseitig gewähren, ist zwar in Diskussion. Sie hätte aber wenig wert, solange sie nicht mit militärischen Fakten untermauert wird.
Der französische Präsident Macron und der britische Premier Starmer bringen seit langem die Stationierung einer westlichen „Friedenstruppe“ in der Ukraine ins Spiel, um Russland abzuschrecken. Macron wiederholte das nach dem Treffen in Washington gegenüber der BBC: „Wir werden der Ukraine mit Boots on the ground helfen müssen,“ sagte er.
Doch weder Frankreich noch Großbritannien können einfach die vielen tausend Soldaten mobilisieren, die für eine robuste Truppe nötig wären. Bundeskanzler Merz hat zwar erstmals angedeutet, dass sich auch die Bundeswehr beteiligen könnte. Doch auch ihr fehlen Ressourcen und die Opposition gegen derartige Pläne ist enorm.
Die USA lehnen die Stationierung eigener Truppen in der Ukraine ab. Das bestätigte Präsident Trump nach dem Treffen in Washington noch einmal auf Fox News. Weder die USA noch die NATO würden sich an einer Truppe beteiligen, sagte er. Wenn es sie gebe, müsse sie aus den europäischen Ländern kommen.
Im Gespräch ist auch eine sogenannte „Stolperdraht“-Truppe, die aus weniger Soldaten besteht und im Falle einer Konfrontation mit Russland ein Eingreifen der NATO auslösen würde. Als dritte Variante gilt eine reine Beobachtertruppe, die von der Ukraine und ihren engsten Verbündeten kaum als „Sicherheitsgarantie“ akzeptiert würde.
Es ist kaum vorstellbar, dass Russland die Stationierung westlicher Truppen auf ukrainischem Boden in irgendwelcher Form hinnehmen würde, war das Vorrücken der NATO doch der Grund für den Angriff auf die Ukraine. Die Forderung nach „boots on the ground“ dient daher auch dazu, eine Verhandlungslösung zu sabotieren und den Krieg fortzusetzen. Macron bestätigte das, als er gegenüber NBC behauptete, Meldungen, dass die Ukraine den Krieg verliere, seien „totale Fake News“.
Ein anderer Vorschlag, wie die Ukraine „Sicherheitsgarantien“ der USA erhalten könnte, stammt aus Kiew. Die ukrainische Regierung schlägt vor, als Gegenleistung amerikanische Waffen im Wert von 100 Milliarden Dollar zu kaufen und gemeinsam mit den USA Drohnen im Wert von 50 Milliarden Dollar zu produzieren. Bezahlen soll den Waffendeal Europa. Der Vorschlag stammt aus einem Dokument zur Vorbereitung des Washingtoner Gipfels, aus dem die Financial Times zitiert.
Für die europäischen Mächte würde das bedeuten, dass sie für eine Pax Americana bezahlen, die sie selbst ausschließt und ihre Bemühungen, die eigene Rüstungsindustrie zu entwickeln, unterhöhlt.
Die Arbeiterklasse darf in diesem Konflikt keine Seite unterstützen. Ein Deal zwischen Trump und Putin wäre kein Schritt zum „Frieden“, sondern eine weitere Stufe der Eskalation zu einem dritten Weltkrieg, der sich vor allem gegen China richtet und auch im Nahen Osten vorangetrieben wird. Die Europäer ihrerseits sind wild entschlossen, den Krieg gegen Russland in der Ukraine weiterzuführen, der bereits Hunderttausende Opfer gefordert hat und sich zu einer direkten Konfrontation mit der Nuklearmacht Russland auszuweiten droht.
Beides lässt sich nur mit massiven Angriffen auf die sozialen und demokratischen Rechte der Arbeiterklasse verwirklichen. In den USA ist Trump mitten drin, eine autoritäre Diktatur zu errichten, und in Europa sind die Herrschenden dabei, Opposition gegen Krieg und Militarismus zu unterdrücken und die gigantischen Kosten der Aufrüstung auf die Bevölkerung abzuwälzen.
Der Widerstand gegen Krieg und Militarismus fällt unmittelbar mit dem Kampf gegen Sozialabbau, Entlassungen und Diktatur zusammen. Die Kriegsgefahr kann nur durch eine unabhängige Bewegung der internationalen Arbeiterklasse gestoppt werden, die für den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft kämpft.