Die schockierenden Berichte über das Ausmaß von Israels Genozid im Gazastreifen – von der Bombardierung ziviler Einrichtungen über das Erschießen von Hilfesuchenden bis hin zum systematischen Verhungern-Lassen kleiner Kinder – hat weltweit zum erneuten Aufflammen von Protesten geführt, an denen sich Hunderttausende beteiligen.
In Hamburg hat sich ein Hafenarbeiter, der Palästinenser Mohammed Alattar, zu Wort gemeldet. Er hatte sich an die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi gewandt, die von sich behauptet, „Arbeitnehmervertreter“ zu sein. Traditionell verhandelt Verdi die Löhne und Bedingungen von Millionen Arbeitenden in den Häfen, Flughäfen, Eisenbahnen, dem Nahverkehr und anderen öffentlichen Einrichtungen.
In all diesen Betrieben sind Arbeiterinnen und Arbeiter bereit, gegen den Genozid aktiv zu werden und die deutschen Waffenlieferungen an Israel zu boykottieren. Aber die Dienstleistungsgewerkschaft weigert sich, auch nur einen Finger zu rühren. Verdi steht an der Seite der SPD in der Merz-Regierung, die Israel mit Waffen und Geld beliefert, und deren „Staatsraison“ jeden Widerstand gegen den Völkermord untersagt und bestraft.
Mohammed Alattar, der im Massaker im Gazastreifen 80 Familienangehörige verloren hat, schreibt in einer an Verdi gerichteten Petition, dass er sich mit seiner Geschichte und der Frage, was Verdi konkret dagegen tue, an die Gewerkschaftsführung gewendet habe. Die Reaktion kommentierte er voller Zorn mit den Worten: „[E]s kam nichts zurück, keine Chance. Nur volle Ignoranz und Schweigen.“
Diese Missachtung des Leidens und der Katastrophe im Gaza spiegele für ihn, schreibt Alattar, „dieselbe Missachtung und Isolation wider, die jüdische Menschen hier in Deutschland vor 80 Jahren erfahren mussten“.
Alattar schildert in seiner Petition an Verdi die Erfahrungen, die er persönlich als Palästinenser aus dem Gazastreifen machte. Er sei 2015 nach Deutschland gekommen, schreibt er und fährt fort:
2023 beendete ich meine Berufsausbildung im Hamburger Hafen und bin seitdem festangestellt und ein Mitglied der Gewerkschaft Verdi. 2023 war ich seit meiner Ankunft in Deutschland das erste und letzte Mal zu Hause in Gaza. Am 06.02.2024 hat die israelische Besatzungsarmee meinen Bruder Abood ermordet. Er war 33 Jahre alt, verheiratet und hinterlässt drei Kinder. Anfang Mai 2024 hat die israelische Besatzungsarmee das Haus meiner Familie im Gazastreifen dem Erdboden gleich gemacht. All meine Musikinstrumente, die Bibliothek meines Vaters (mit über 5.000 Büchern), alle Fotos und Erinnerungen, alles weg.
Ich habe über 80 Personen meiner Familie und über 130 meiner Freunde, Nachbarn und ehemaligen Kollegen verloren. Seitdem erleben meine Eltern einen Horror an Zerstörung, Verlust, körperlicher und psychischer Krankheit, verursacht durch die israelische Besatzungsarmee. Durch diese Aggressionen wurden 90 Prozent meines gesamten Lebens vor 2015 beschädigt und ausgelöscht: Menschen, Straßen, Wege, Orte, Eigentum (…)
Dann schreibt Alattar, es sei ihm klargeworden, „welche wichtige Rolle, Verantwortung und politische und gesellschaftliche Position eine Gewerkschaft“ innehabe, und er beschreibt seine Initiativen, in denen er sich vor einem halben Jahr, im Februar 2025, an Verdi wandte. Er habe seine grauenhaften Erlebnisse geschildert und Aktionen der Gewerkschaft gefordert – „Jedoch es kam nichts zurück (…)“
Daraus müsse er, fährt Alattar fort, das Folgende schließen:
Die Missachtung meines Leids durch die Gewerkschaft Verdi und ihr Schweigen angesichts der Katastrophen, die ich persönlich erlebe, und die mein Volk und der Rest meiner Familie Tag für Tag erleben, spiegeln dieselbe Missachtung und Isolation wider, die jüdische Menschen hier in Deutschland vor 80 Jahren erfahren mussten. Damals wie heute herrscht Schweigen. Die Geschichten ähneln sich, vielleicht unterscheiden sich Namen, Daten, Details und Interessen, doch die Katastrophe, ihre Ursachen und die Faktoren, die zu ihrem Entstehen und Fortbestehen führen, sind die Gleichen.
Hier, in einem Land, das eigentlich aus der Geschichte lernen sollte, wird Geschichte ignoriert und verdrängt. Gerade dieses Land, das am meisten aus seiner Vergangenheit hätte lernen müssen, wiederholt weiterhin die Fehler der Geschichte, in anderer Form, aber mit denselben Folgen. Ich bin mir bewusst, dass das Schweigen, die Missachtung und die Isolation, die ich heute erfahre, dem ähneln, was ein jüdischer erschöpfter Mann vor 80 Jahren in Hamburg erleben musste.
Er kommt zum Schluss: „Ich weiß, dass das Schweigen meiner Gewerkschaft Verdi ein Teil dieses Albtraums ist. Es ist Mitverantwortung, Mittäterschaft und Unterstützung.“ Er selbst werde weiter „auf die Straße gehen, laut sein und diese Missachtung, diesen Rassismus und die Diskriminierung, die ich von meiner Gewerkschaft erfahren habe, bekämpfen“.
Alattar hat den Finger in die Wunde gelegt und eine wichtige Tatsache ausgesprochen: Die stillschweigende oder auch weniger stillschweigende Kooperation der Dienstleistungsgewerkschaft mit der Kriegspolitik der Merz-Regierung und auch dem Genozid ist ein entscheidender Grund für die bisherige Lähmung und Verwirrung der Arbeiterklasse.
Verdi hat sich ausdrücklich an die Seite der Regierung gestellt. Auf ihrem letzten Gewerkschaftskongress im September 2023, als sie sich mit der Frage der Kriegspolitik befasste, unterstützte Verdi in ihrer Hauptresolution die horrende Aufrüstung und hieß konkret die Waffenlieferungen an die Ukraine gut, die Verdi-Chef Frank Werneke als „völkerrechtlich legitim“ und „notwendig“ bezeichnete.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die Waffenlieferungen an Israel hat die Verdi-Führung seit Oktober 2023 kein einziges Mal öffentlich kritisiert.
Noch im März 2025 (also lange, nachdem er Alattars Brief erhalten hatte) rechtfertigte Werneke das gigantische Aufrüstungsprogramm über rund eine Billion Euro, mit dem die Regierung Deutschland zur militärischen Großmacht aufrüsten und zur Kriegsführung befähigen will, auf der Verdi-Homepage mit den Worten: „Das Schutzversprechen der USA gegenüber Europa ist wackelig geworden. Vor diesem Hintergrund sind Diskussionen über höhere Verteidigungsaufwendungen in Deutschland und Europa verständlich. Europa muss sich verteidigen können, die Bundeswehr muss einsatzfähig sein.“
Gleichzeitig hat Verdi in den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst, dem Nahverkehr und bei DHL Deutsche Post Reallohnsenkungen akzeptiert und den Weg dafür freigemacht, dass die Kosten der gigantischen Aufrüstung den Arbeitern aufgebürdet werden.
Diese Gewerkschaftsbürokratie (und auch diejenige der IG Metall und aller anderen DGB-Gewerkschaften) ist integrierter Bestandteil der deutschen Staatspolitik. Nur im offenen Konflikt mit ihr ist es möglich, der Kriegspolitik der Union-SPD-Koalition den nötigen Arbeiterwiderstand entgegenzusetzen.
Mohammed Alattar sagte der World Socialist Web Site: „Seit dieser Erfahrung mit Verdi habe ich entschieden, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen und selbst Verbündete, Gewerkschaftsorganisationen und Gruppen zu sammeln, um diesen Kampf, diese Kampagne auch gegen Verdi durchzuführen.“
Die Sozialistische Gleichheitspartei kämpft dafür, dass in den Häfen, an den Flughäfen, bei der Bahn und in der Rüstungsindustrie unabhängige Aktionskomitees aufgebaut werden, um den Widerstand zu koordinieren. Diese werden sich mit Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt zusammenschließen, um Krieg und Völkermord zu stoppen. Ein internationaler Boykott wird sich als Teil der sozialen Revolution entwickeln, die endlich den Kapitalismus selbst, die Quelle von Krieg, Faschismus und Genozid, überwinden wird.
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