Am 16. Juli starb im Alter von 88 Jahren der Theaterregisseur und Intendant Claus Peymann. Selten hat der Tod eines Theatermannes so viel Beachtung in Politik, Kulturwelt und in den Medien gefunden. Claus Peymann war einzigartig, und das nicht nur, weil er ein bedeutender Künstler war, der große deutschsprachige Theaterbühnen über viele Jahrzehnte geprägt hat. Am Anfang war er Rebell, am Schluss galt er als der letzte König des Theaters. Aber die Rolle des Rebellen behielt er bei.
Seine Bedeutung lag darin, dass er das Theater als politisch-gesellschaftlich bedeutsame und unverzichtbare Institution begriffen und verteidigt hat, ohne künstlerische Zugeständnisse zu machen. Genauso vehement hat er verteidigt, dass im Theater auch gelacht werden solle. Narren und Clowns gehörten für ihn genauso dazu wie tragische Helden und starke Frauen.
Geboren wurde er 1937 in Bremen, sein Vater war Lehrer und überzeugter Nationalsozialist, seine Mutter eine ebenso überzeugte Gegnerin Hitlers und der Nazis. Sie hörte in den letzten Kriegsjahren Feindsender und sehnte das Ende der Schlächterei herbei. Ihr Sohn Claus wuchs in den entscheidenden Konflikten des 20. Jahrhunderts auf, und seine Jugend war geprägt von der Stimmung des „Nie wieder“. Wie viele dieser Generation suchte er eine bessere Welt in Literatur, Kunst und Theater.
Stuttgart. Bochum. Wien. Berlin. Das waren die großen Spielstätten der Karriere von Peymann, aber seine Anfänge lagen beim Studententheater der 1960er Jahre, zuerst in Hamburg, wo er Germanistik, Literatur- und Theaterwissenschaft studierte. Er sagte später über seine Hamburger Anfänge: „Ich wollte Schriftsteller werden. Mindestens Journalist“, und fuhr fort: „Dass ich Regisseur wurde, war Zufall. Jemand fiel aus im Hamburger Studententheater, wo ich ab 1960 mitmachte, dann habe ich übernommen, und es wurde natürlich gleich ein Welterfolg.“
Das Studententheater hatte seine Blütezeit in den 1950er und frühen 1960er Jahren. In der Nachkriegszeit begann es damit, die Stücke aufzuführen, die während der Nazizeit verboten und deren Autoren Nazigegner waren, im Exil lebten oder unerwünschte Ausländer waren. Darunter befanden sich auch die Stücke von Bertolt Brecht, um den die Stadttheater in Westdeutschland in der Zeit des Kalten Kriegs noch lange Zeit einen Bogen machten.
Ein besonderes Ereignis waren die seit 1949 in der Universitätsstadt Erlangen jährlich stattfindenden Internationalen Theaterwochen der Studentenbühnen, zu denen nicht nur Gruppen aus west-, ost- und außereuropäischen Ländern anreisten, sondern auch bekannte Theaterkritiker und Theaterwissenschaftler aus West und Ost. Dazu gehörten u.a. der greise Herbert Ihering, der Bertolt Brecht in den 1920er Jahren zum Durchbruch verholfen hatte und Hans Bunge vom Berliner Ensemble, der später das Brecht-Archiv aufbaute, sowie bekannte Kritiker wie George Schlocker oder Reinhart Baumgart, Mitglied der Gruppe 47.
Claus Peymann inszenierte an der Erlanger Studiobühne das antirassistische Stück „Straßenecke“ von Hans Henny Jahnn. Die Aufführung am 24. Juli 1965 im Rahmen der 15. Theaterwoche war ein großer Erfolg. Auf der Premierenfeier war auch der damals noch unbekannte österreichische Autor Peter Handke anwesend, mit dem Peymann bereits Verbindung aufgenommen hatte.
Das gesamte Ensemble, in dem die Autorin dieses Nachrufs ein Mitglied war, wurde danach zu einem großen Studententheater-Festival nach Warschau eingeladen, wo die Inszenierung ebenfalls gefeiert wurde und den Ersten Preis erhielt. Auf der Fahrt nach Warschau hatte das Ensemble in Auschwitz Halt gemacht und tief erschüttert das KZ und die Ausstellung besucht. In Warschau, wo noch an vielen Stellen die brutalen Zerstörungen der Nazi-Invasion sichtbar waren, besichtigten wir den Ort, an dem einst das Ghetto stand.
Das Theater, in dem wir eigentlich spielen sollten, musste wegen gefährlicher Instabilität infolge eines Bombentreffers gewechselt werden. Der Organisator des Festivals Andrzej Wirth, ein Brechtspezialist und Freund Marcel Reich-Ranickis, setzte sich dafür ein, dass wir schließlich im großen Kulturpalast spielen konnten.
Die Studententheater waren eine Art Wegbereiter für die Studentenbewegung, die in Deutschland 1967 einsetzte und 1968 im Generalstreik der französischen Arbeiter gipfelte, der Staatspräsident General de Gaulle zur Flucht nach Baden-Baden veranlasste. Und es dauerte nicht lange, bis auch die deutschen Arbeiter in heftige Arbeitskämpfe traten. Eine von Peymanns bekanntesten Äußerungen gegen Ende seiner Laufbahn 2018 war: „Ich bin ja nicht 1937 geboren. Da bin ich als Claus Peymann in Bremen geboren. Geboren bin ich 1968. Oder in den 60er, 70er-Jahren…“
Es war diese Atmosphäre, in der die Karriere Peymanns als erfolgreicher, aber immer wieder angefeindeter Regisseur begann, der die deutsche Theaterlandschaft gründlich aufmischte. Als Spielleiter im Theater am Turm in Frankfurt verursachte er bald darauf mit der Uraufführung von Handkes „Publikumsbeschimpfung“ seinen ersten größeren Skandal. Die Stücke des späteren Nobelpreisträgers Handke wurden von Peymann immer wieder inszeniert, obwohl beide vollkommen gegensätzliche Persönlichkeiten waren, wie Peymann selbst betonte. Drei Jahre später folgte Handkes „Das Mündel will Vormund sein“ ebenfalls in Frankfurt. Als Handke nach Bekanntgabe des Nobelpreises 2019 heftig angefeindet wurde, weil er die Verteufelung Serbiens und seiner Bevölkerung ablehnte, verteidigte Peymann ihn.
Filbinger
Seine erste Intendanz übernahm Peymann von 1974 bis 1979 als Schauspieldirektor in Stuttgart. Dort wagte er sich 1977 u.a. an beide Teile von Goethes „Faust“. Aber nicht dafür ging er als Skandalregisseur durch die Medien. Es war die Zeit der Stammheimer Prozesse gegen die RAF-Mitglieder Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Holger Meins und Jan-Carl Raspe. Es herrschte eine beispiellose Hetzjagd gegen jeden, der es wagte, sich in irgendeiner Weise für eine humane Behandlung der Inhaftierten oder ihre Rechte als Angeklagte einzusetzen.
Auf Bitten der Mutter von Gudrun Ensslin spendete Peymann 100 DM für deren Zahnbehandlung und heftete ans Schwarze Brett des Theaters eine Mitteilung, falls sich jemand ihm anschließen möchte. Das brachte den Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, den ehemaligen Nationalsozialisten und Marinerichter Hans Filbinger (CDU) auf den Plan, der tobte und Peymanns Kopf forderte. Dem Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel ist es zu verdanken, dass Peymann seinen bis 1979 laufenden Vertrag zu Ende erfüllen und noch etliche gelungene Inszenierungen machen konnte.
Peymann erklärte später, es sei ein „Glücksfall“ für das Theater gewesen, dass damals der „bigotte Dunkelmann der Reaktion“ an der Macht gewesen sei, „der immer das Abendland in Gefahr sah und der sich schließlich als ein ganz perfider Lügner und NS-Jurist entlarvte“. Oft betonte Peymann, dass reaktionäre Zeiten das Potential hätten, gute Zeiten für das Theater zu werden. Seine Karriere beweist das.
Peymann mischte sich sowohl als Theatermann, aber auch privat immer wieder politisch ein, was ihm nicht nur Freunde einbrachte. Was ihn auszeichnete, war, dass seine Aufführungen durchaus politisch scharf, aber alles andere als ideologisch verbohrt oder trocken waren. Er hatte viel bissigen Humor und gewann manch einem ernsthaften Text komische Seiten ab.
Auch zeichnete ihn ein sicheres Gespür nicht nur für die Aktualität historischer Themen, sondern auch für die Sinnlichkeit, die Spannung und Poesie der Stücke aus, die er auswählte. Das gilt ganz besonders für eine seiner berühmtesten Inszenierungen, die „Hermannsschlacht“ von Heinrich von Kleist, die der Autor gegen die napoleonische Besatzung geschrieben hatte. Die Nazis hatten das Drama als deutschnationales Propagandastück usurpiert, worauf es in der Nachkriegszeit als unspielbar gegolten hatte.
Peymann führte es im Bochumer Schauspielhaus auf, seiner nächsten Theater-Station. Christine Drössel, die Theaterkritikerin der Süddeutschen Zeitung und Mitarbeiterin an der Autobiografie Peymanns, nennt sie die „vielleicht beste Inszenierung seines Lebens“. In der Hauptrolle glänzte der namhafte Schauspieler Gerd Voss als germanischer Guerillaführer. Er gehörte zu der Gruppe hochkarätiger Darsteller und Darstellerinnen, die Peymann an viele Theater begleiteten. Zu ihnen zählten auch Ilse Ritter und Kirsten Dene, die ihm von Stuttgart über Bochum nach Wien folgten.
In Bochum musste sich Peymann rechtfertigen, weil er 44 Darsteller entließ, um Platz für die Schauspieler zu machen, mit denen er eingearbeitet war. Unter anderem schmiss er einen jungen Schauspieler, einen gewissen Herbert Grönemeyer, wegen „Talentlosigkeit“ aus dem Ensemble. Eine Tat, die er später zu seinen schlimmsten Fehlern zählte.
Oft wurde Peymann aufgrund seiner unangefochtenen Autorität und Dominanz als Regisseur und Intendant als großer Zampano, Papst, Diktator, Wüterich oder positiv gewendet als Theaterkönig bezeichnet. Das ist alles sicher nicht unbegründet. Es drückte einerseits die Souveränität aus, mit der er an seine Arbeit ging, andererseits eine gewisse Rücksichtslosigkeit im Dienst an der Sache.
Wer einmal mit ihm gearbeitet hatte, kannte seine Kompromisslosigkeit, die gelegentlich auch ihre Opfer forderte. Aber immer ging es ihm um das Stück, um das Theater, den Text, die Dichtung, wie er sie verstand und um jeden Preis über die Rampe bringen wollte. Bei aller Selbstherrlichkeit verstand er sich als Diener der Theaterdichter, der Klassiker wie der Zeitgenossen. Theater war für ihn sowohl Spiel, Magie und Spaß als auch Aufklärung und Politik. Darin unterschied er sich von Regisseuren, die mit ihren gewollten Modernisierungen und manchmal Abscheu erregenden „Interpretationen“ sich vor allem selbst in Szene setzen wollten.
Wütend konnte er werden, wenn ihm seitens der Bürokratie oder von Kommunal- oder sonstigen Politikern Steine in den Weg gelegt oder die Mittel gekürzt werden sollten. In Bochum wetterte er in einer von ihm einberufenen Protestveranstaltung gegen die Engstirnigkeit der städtischen, SPD-geführten Kommunalpolitik, die nicht einsehen wolle, dass gutes Theater eben auch gutes Geld benötige. Ähnliche, noch viel heftigere Schimpftiraden von ihm gab es am Wiener Burgtheater oder später beim Berliner Ensemble.
Thomas Bernhard
Seine Zeit am Burgtheater bezeichnete Peymann als den Höhepunkt seiner Karriere. Schon in den frühen siebziger Jahren hatte seine Verbindung mit Thomas Bernhard begonnen, die ein Leben lang halten sollte. 1972 hatte Peymann bei den Salzburger Festspielen die Uraufführung von „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ mit Bruno Ganz und Ulrich Wildgruber inszeniert. Auch in Stuttgart und Hamburg inszenierte er Bernhards Stücke.
Thomas Bernhard war der kongeniale zeitgenössische Autor für Peymann. Er schätzte seinen bissigen Humor, seine ätzende Kritik an der österreichischen ewigen Gestrigkeit und am wieder erstarkenden Rechtsradikalismus. Von Bernhard hat Peymann im Laufe seiner Karriere nach eigener Zählung 21 Stücke inszeniert, davon 15 Mal die Uraufführung.
Als Peymann 1988 Bernhards „Heldenplatz“ am Burgtheater zur Uraufführung brachte – das Stück spießte die Nazi-Begeisterung vieler Österreicher nach dem Anschluss des Landes an Deutschland 1938 auf und rechnete mit seinem faschistischen Erbe ab –, da schlug dem Autor und dem Regisseur mit Heftigkeit der blanke Hass entgegen. Es war ein Theaterskandal von geradezu historischer Dimension. Ihnen wurde „Österreich-Besudelung“ vorgeworfen.
Die rechte Presse sah in Bernard und Peymann Staatsfeinde erster Klasse. Die Kronenzeitung heizte die Affäre kräftig an, und zahlreiche Politiker wie der damalige Vizekanzler Alois Mock (ÖVP), Ex-Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ), Bundespräsident Kurt Waldheim und allen voran FPÖ-Obmann Jörg Haider mischten sich ein. Schließlich wurde sogar ein Haufen Mist vor dem Theater abgeladen. Peymann ließ sich nicht einschüchtern, sondern lief zur Hochform auf. Seine Bilanz an der Burg: insgesamt 252 Premieren, 51 Uraufführungen. Wien trauert heute um ihn und bot ihm ein Ehrengrab an.
Berliner Ensemble
Mit großer Lust, auch in der deutschen Hauptstadt die Theater- und die politische Welt aufzurütteln, übernahm Peymann 1999 das ehemalige Brecht-Theater am Schiffbauerdamm, das Berliner Ensemble (BE). Dieses Theater zu leiten war eigentlich ein Traumjob für ihn. Sein Motto lautete, er wolle „der Reißzahn im Hintern der Politik“ sein.
Dazu, dass ihm dies nicht wirklich gelang, meinte er selbst, ihm hätten in Berlin die politischen Gegner gefehlt. Außerdem sei die breite Front der Politiker in Berlin „kulturell eher den Banausen zuzurechnen“.
Inszeniert hat er in Berlin querbeet durch die dramatische Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart. Es waren hervorragende Theaterabende, wenn er Shakespeare, Handke, Brecht, Wedekind, Büchner oder Kleist auf die Bühne brachte. Das Theater war in der Regel voll. Aber Skandale blieben weitgehend aus.
Peymann stritt sich mit dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und später dem Kulturstaatssekretär Tim Renner, dessen Entlassung er forderte. Allerdings blieb seine Kritik auf einer organisatorischen Ebene, wie die Kritik am „Live-Streaming“ oder auch an der geplanten Anhebung der Eintrittspreise. Die politische Veränderung in Berlin nach dem Ende von DDR und Sowjetunion, die auch die kulturelle Atmosphäre verwandelt hatte, thematisierte Peymann wenig. Dennoch war dies vermutlich die Grundlage für den Gegenwind, der ihm Schwierigkeiten bereitete. Sozialkritische kulturelle Aktivitäten gingen in einem Trommelfeuer gegen den angeblich „endgültig toten Sozialismus“ unter.
Peymann schimpfte viel über die Event-Kultur, beispielsweise anlässlich der
Veränderungen an der Volksbühne, die die Berliner Politik in einen „soundsovielten Event-Schuppen“ verwandeln wolle, wie er sich ausdrückte. In den Medien, wie der Welt, hieß es daraufhin: „Raus mit dem Revolutionsopa“.
Die Ablösung Peymanns 2017 und Übergabe an den jetzigen Intendanten Oliver Reese verlief nicht reibungslos. Reese kündigte viele Schauspieler-Verträge auf und änderte auch das Konzept, das nun eher auf den wirtschaftlichen Erfolg und Anpassung an den politischen Mainstream setzt. Peymann zeigte seinen Unmut, warf ihm die Auflösung des BE-Archivs und damit indirekt den Bruch mit der Geschichte dieses legendären Theaters vor.
Zum Ausklang seiner Intendanz nahm er am 2. Juli 2017 mit einem langen Theaterabend „Abschied“. Ausschnitte aus seinen Lieblingsstücken konnten Revue passieren, Filmaufnahmen von verstorbenen Regisseuren und Schauspielern, die eng mit ihm verbunden waren, erschienen noch einmal auf einer Bühnenleinwand. Nina Hagen, Katharina Thalbach, Georgette Dee, Angela Winkler traten auf. Auch Herbert Grönemeyer, den er in Bochum entlassen hatte, ließ es sich nicht nehmen zu kommen.
Wer ein von Peymann am BE inszeniertes Theaterstück sehen möchte, dem sei empfohlen, bei 3SAT sich „Richard II.“ von Shakespeare in der Neuübersetzung von Thomas Brasch anzuschauen. Es ist noch bis zum 16. August 2025 zu sehen.
Absurdes Theater
Aber damit war Peymanns Karriere nicht am Ende. In der Spielsaison 2017/18 kehrte er für ein Gastspiel zum Stuttgarter Staatstheater zurück, wo er Shakespeares „König Lear“ inszenierte.
Obwohl er 2019 schwer erkrankte, inszenierte er 2020 am Wiener Theater in der Josefstadt Thomas Bernhards Dramolett „Der deutsche Mittagstisch“ sowie 2021 das absurde Stück „Der König stirbt“ von Eugene Ionesco, danach 2022 im Stadttheater Ingolstadt Ionescos berühmtestes Stück „Die Nashörner“ und 2023 wieder in Wien im Theater in der Josefstadt „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett.
Seine letzte Inszenierung war „Minetti – Ein Portrait des Künstlers als alter Mann“ von Thomas Bernhard, ein Stück über den Schauspieler Bernhard Minetti, im Jahr 2023 am Residenztheater in München.
Manche Kritiker haben es als Zeichen der Resignation gesehen, dass Peymann sich gegen Ende seiner Karriere den zuvor von ihm nicht beachteten Stücken des absurden Theaters zugewandt hat. Im rumänischen Hermannstadt, wo im Rahmen des Theaterfestivals 2022 seine Inszenierung der „Nashörner“ gezeigt wurde, erklärte er in einem Interview mit der Deutschen Welle: „Ich sah [in Stuttgart und Wien], dass Theater wirken kann. Egal, ob es um Kleist, Büchner, Brecht, Peter Turrini, Jelinek ging, ich war immer überzeugt vom politischen Theater.“
Jetzt als 85-Jähriger sehe er die Dinge anders. Unter dem Eindruck des Ukrainekriegs kamen ihm Zweifel, ob das Theater wirklich die Welt verändern könne. „Manchmal denke ich, und da folge ich Eugene Ionesco, dass das, was passiert, so absurd und unvorstellbar ist – ich habe den Hitler-Krieg ja als kleiner Junge noch erlebt –, dass das jetzt wieder entsteht, mitten in Europa, dass wir uns bis an die Zähne bewaffnen.“
Aber schon im nächsten Satz schimmert sein rebellischer Geist wieder durch: „Wir haben nicht das Geld für die Emigranten und wir helfen nicht den Flüchtlingen aus Afrika, die vor dem Hunger davonlaufen. Plötzlich aber haben wir Milliarden, um diesen Krieg zu finanzieren. Plötzlich ist das Geld da.“ Im Alter ändere sich sein Blick auf die Wirklichkeit, die immer absurder erscheine. Dennoch: „Ich will kein Zyniker werden wie Heiner Müller, mit dem ich sehr befreundet war“, stellt er unmissverständlich fest.
In einem Interview Ende 2023 mit Atha Athanasiadis im Bühne-Magazin über seine Inszenierung von „Warten auf Godot“ von Beckett brachte Peymann die Quintessenz seiner Arbeit vor allem der letzten Jahre auf den Punkt. Es lohnt sich, diese Bekenntnisse Peymanns etwas umfangreicher zu zitieren:
Ich habe das Stück immer wieder gelesen und dachte: Niemals! Das mache ich auf keinen Fall! Aber hier und jetzt, genau jetzt brauchen wir wieder Theater wie dieses: Die Welt ist aus den Fugen. Kriege, Katastrophen, Terror und hilflose Politiker stürzen uns in Ratlosigkeit, Resignation und Einsamkeiten. …
Damit wir nicht durchdrehen, brauchen wir eine andere Sicht, brauchen wieder Freiheit, nicht Sachzwänge. Nachdenken, Innehalten, Staunen, Zuhören, Träumen, Weinen und Lachen – und vor allem eines: die Fantasie. …
Wir brauchen ein Besinnen auf ein Theater, das sich Zeit nimmt, das Raum lässt, das Fragen offen lässt, das nicht klüger ist als wir. Wir brauchen Muße zum Nachdenken und Spinnen. Man hat das Gefühl, der Krieg ist wie eine Infektionskrankheit – wie ein Virus, eine Art Corona ist der Krieg über die Welt hereingebrochen. Überall wird gemordet. Unser Planet wird von uns planmäßig zerstört….
Diese erschreckende, fast aussichtslose Situation macht Gegenwehr erforderlich, und das kann die Kunst....
Es geht nicht darum, dass wir tolle Schauspielerinnen und Schauspieler haben auf der Bühne und interessante Stücke und spektakuläre Inszenierungen … Die Kernaufgabe des Theaters ist es, Stopp! zu rufen und: Schaut genau hin! Und zu fragen: Wollen wir wirklich in einer solchen Welt leben?
Claus Peymann hat bis zuletzt, trotz gelegentlicher Schwankungen, daran festgehalten, dass Kunst und Theater gegen die unmenschlichen bestehenden Verhältnisse rebellieren müssen. Dies ist sein wichtigstes Vermächtnis für die künftige Generation sowohl auf der Bühne als auch im Publikum.