Seit am 11. Juli die Wahl dreier Bundesverfassungsrichter im Bundestag scheiterte, dominiert die Auseinandersetzungen darüber die Titelseiten und Kommentarspalten der Medien.
Diskutiert wird, ob die geplatzte Wahl die Regierungskoalition „beschädigt“ und „die Autorität und Funktionsfähigkeit eines Verfassungsorgans, das zugleich unser höchstes Gericht ist“, untergraben habe (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier); ob „das Versprechen von Führungsstärke“ des neuen Bundeskanzlers Friedrich Merz bröckle (Der Spiegel); ob die „Professionalität der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen“ einen „geradezu stümperhaften Verlust“ erlitten habe (Kursbuch); und ob „zu viel Transparenz“ bei der Richterwahl „auch zu Vertrauensverlust führen kann“ (Der Spiegel).
Doch die entscheidende Lehre aus der geplatzten Richterwahl wird systematisch ausgeklammert: Sie zeigt, in welchem Ausmaß die AfD bereits mit am Kabinettstisch sitzt. Sie macht deutlich, dass Merz‘ Tabubruch vom 29. Januar, als Union und AfD im Bundestag gemeinsam einen migrationsfeindlichen Antrag verabschiedeten, weder ein Ausrutscher noch ein Missverständnis war.
Die rechtsextreme und in Teilen faschistische Partei wird systematisch benutzt, um die gesamte offizielle Politik nach rechts zu treiben. Die Migrationspolitik von Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) trägt die Handschrift der AfD, die AfD hat als Erste die Erhöhung der Militärausgaben auf 5 Prozent des BIP gefordert, die inzwischen offizielle Politik der Nato und der Bundesregierung ist, und nun gibt sie auch bei der Besetzung des höchsten Gerichts den Ton an.
Die geplante Wahl dreier neuer Verfassungsrichter wurde am Freitag letzter Woche kurzfristig von der Tagesordnung des Bundestags abgesetzt, weil mehrere Dutzend Unionsabgeordnete nach einer Hetzkampagne rechtsextremer Medien und der AfD nicht mehr bereit waren, für die von der SPD vorgeschlagene Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf zu stimmen, obwohl die Unions-Führung dem Vorschlag bereits zugestimmt hatte.
Die Kampagne ging unter anderem vom ehemaligen Chefredakteur der Bild-Zeitung Julian Reichelt aus, der inzwischen das rechtsradikale Medium Nius herausbringt. Nachdem die F.A.Z. am 30. Juni gemeldet hatte, die Regierungskoalition habe sich auf drei Kandidaten geeinigt – die von der SPD nominierten Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold sowie den von der Union unterstützten Günter Spinner –, forderte Reichelt, Brosius-Gersdorf müsse „verhindert werden!“
Reichelt stützte sich dabei laut Recherchen des Spiegels auf die AfD-freundliche Plattform Apollo News, die der Staatsrechtsprofessorin vorwarf, Abtreibungen und eine Impfpflicht zu befürworten. In den folgenden zehn Tagen veröffentlichte Nius mehr als zwanzig Hetzartikel über Brosius-Gersdorf.
Der Sturm erreichte bald Orkanstärke. AfD-Chefin Alice Weidel repostete Reichelts Beitrag. Die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch behauptete auf X, Brosius-Gersdorf sei eine „linksradikale Aktivistin, die im Prinzip der Abtreibung bis zum 9. Monat das Wort redet“. Auch die rechtextreme Wochenzeitung Junge Freiheit unterstützte die Kampagne. Schließlich schlossen sich auch Bild, NZZ und Welt an.
In der CDU meldete sich die ultrarechte Brandenburger Abgeordnete Saskia Ludwig zu Wort und bezeichnete Brosius-Gersdorf als „unwählbar“, weil sie angeblich für eine Impfpflicht eintrete. In der F.A.Z. signalisierten mehrere CDU-Bundestagsabgeordnete anonym ihre Ablehnung der Kandidatin.
Auf X erschienen zehntausende Posts gegen die Kandidatin. Laut dem Beratungsnetzwerk polisphere, das 40.000 davon analysiert hat, standen am Anfang vor allem Brosius-Gersdorfs Haltung zu einem AfD-Verbot, das sie unter bestimmten Voraussetzungen befürwortet, und dann ihre Ansichten zur Abtreibung im Mittelpunkt.
Bundestagsabgeordnete wurden mit E-Mails überschwemmt. Allein über die abtreibungskritische Plattform 1000plus, die ein entsprechendes Tool zur Verfügung stellte, wurden 38.000 automatisierte Mails gegen die Wahl von Brosius-Gersdorf versandt.
Auch die katholische Kirche schaltete sich ein. Der Bamberger Erzbischof Herwig Gössl bezeichnete die Nominierung einer Richterin, die „das Lebensrecht ungeborener Menschen bestreitet“, als „innenpolitischen Skandal“ und „Abgrund der Intoleranz und Menschenverachtung“. Später ruderte er zurück und behauptete, er sei falsch informiert worden.
Die Kandidatin selbst erhielt verdächtige Postsendungen und Drohungen, die sich auch gegen ihre Familie und ihre Mitarbeiter richteten, denen sie riet, nicht mehr in ihren Lehrstuhlbüros zu arbeiten.
Die Anschuldigungen gegen Brosius-Gersdorf waren größtenteils frei erfunden. Sie ist eine etablierte Professorin für öffentliches Recht, die auf eine lange akademische Karriere zurückblickt und derzeit an der Universität Potsdam lehrt. Ihre Ansichten liegen, so der Spiegel, „im juristischen Mainstream“.
Sie vertritt zum Teil, vor allem in Fragen des Familienrechts und der Gleichberechtigung, liberale Positionen, zum Teil auch reaktionäre – so wenn sie eine Grundrente mit der Begründung ablehnt, sie verstoße gegen das Abstandsgebot, und eine Erhöhung des Renteneintrittsalters über 67 Jahre befürwortet.
Ihre Haltung zur Abtreibung würde an der gegenwärtigen Praxis nichts ändern. Nach geltendem Recht sind Schwangerschaftsabbrüche zwar rechtswidrig aber in den ersten drei Monaten straffrei, wenn sich die Schwangere vorher einer Beratung unterzieht. Um diesen Widerspruch aufzuheben, will Brosius-Gersdorf den Abbruch in den ersten drei Monaten legalisieren.
In diesem Zusammenhang steht auch ihre umstrittene Äußerung: „Menschenwürde- und Lebensschutz sind rechtlich entkoppelt.“ Würde die „Menschenwürde“, die laut Grundgesetz unantastbar ist, auch einem Embryo zugestanden, wäre die Abtreibung vom Tag der Befruchtung an illegal. Einen „Lebensschutz“ ab dem dritten Monat befürwortet Brosius-Gersdorf dagegen.
Trotzdem warfen ihr ihre Gegner vor, sie wolle Spätabtreibungen bis zum neunten Monat straffrei stellen und „Babys im Mutterleib zerhacken“. Die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch beschuldigte sie im Bundestag, für sie gelte „die Würde eines Menschen nicht, wenn er nicht geboren ist“.
Brosius-Gersdorf wandte sich in einer schriftlichen Erklärung und mit einem Auftritt bei Markus Lanz im ZDF gegen diese Verleumdungen. Doch auch das wurde ihr als Verstoß gegen die Neutralitätspflicht als zukünftige Richterin angelastet. Obwohl der verleumderische Charakter der Vorwürfe und ihr rechtsextremer Ursprung inzwischen allgemein bekannt sind, häufen sich die Forderungen an die Juristin, ihre Kandidatur zurückzuziehen.
So legte ihr Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) noch am gestrigen Freitag einen Rückzug nahe. „Frau Brosius-Gersdorf macht sich bestimmt Gedanken, wie sie mit dieser Situation umgeht“, sagte er der Augsburger Allgemeinen. „Als Bewerberin für eine Position im Verfassungsgericht hat man wohl kaum die Intention, die Polarisierung in der Gesellschaft weiter zu befördern.“ Die Überhöhung einer Person für ein, wenn auch herausgehobenes Amt, wäre die falsche Reaktion.
Auch CSU-Chef Markus Söder hat sich gegen eine weitere Kandidatur Brosius-Gersdorfs ausgesprochen.
Bundeskanzler Friedrich Merz hält sich alle Optionen offen. In der Bundespressekonferenz bezeichnete er die Kritik an Brosius-Gersdorf zwar als inakzeptabel, unsachlich und zum Teil beleidigend und herabsetzend. Doch er wollte sich nicht festlegen, ob er nach der Sommerpause für sie stimmen werde, und brachte auch die Möglichkeit einer anderen Kandidatin ins Spiel.
Die SPD hält zwar noch an Brosius-Gersdorf fest. Doch wer die Partei kennt, weiß, dass sich das in den kommenden Wochen im Interesse des „Koalitionsfriedens“ ändern kann.
Bisher hatten sich die etablierten Parteien stets bemüht, die 16 Richter und Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts einvernehmlich zu wählen, um seine Autorität und vorgebliche Neutralität nicht zu gefährden. Das Gericht verfügt über enorme Macht. Es kann Mehrheitsbeschlüsse des Bundestags für verfassungswidrig erklären und auf diese Weise selbst Recht schaffen, kann als einzige Instanz Parteien verbieten, regelt Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern und ist höchste Instanz in allen Rechtssachen.
Die Richter werden zur Hälfte vom Bundestag und zur Hälfte vom Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit gewählt und bleiben maximal zwölf Jahre oder bis zur Vollendung des 68. Lebensjahres im Amt. Vorbereitet wird die Wahl von einem zwölfköpfigen Wahlausschuss, dem Vertreter aller Fraktionen angehören und der nicht öffentlich tagt. Gelangt der Wahlvorschlag vor den Bundestag, sind die nötigen Mehrheiten in der Regel garantiert.
Dabei sind neben erfahrenen Richtern und Rechtswissenschaftlern auch prominente Politiker, wie der frühere saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU), zu Verfassungsrichtern gewählt worden. Eine politische Polarisierung innerhalb des Gerichts wie in den USA, wo der Supreme Court mittlerweile von einer Trump-freundlichen, faschistischen Mehrheit beherrscht wird, gab es im Bundesverfassungsgericht aber bisher nicht.
Die Auseinandersetzung um Brosius-Gersdorf zeigt, dass dies vorbei ist. Die massive Aufrüstungs- und Kriegspolitik, die im Zentrum der Politik der Merz-Regierung steht, und die damit verbundenen Angriffe auf Sozialleistungen, Renten, Löhne und Arbeitsplätze erfordern die Aufrüstung und einen Rechtsruck des gesamten Staatsapparats – der Justiz, der Polizei, der Geheimdienste und der Regierung.
Die AfD wird benutzt, um diesen Rechtsruck zu vollziehen. Gegenwärtig steht sie noch außerhalb der Regierung, weil ihr Eintritt massive Proteste auslösen würde. Doch das kann sich ändern, wenn sich die Krise der Koalition weiter vertieft.
Am 29. Januar hatte Merz signalisiert, dass er zur Zusammenarbeit mit der AfD bereit ist, als die Union gemeinsam mit der AfD für den migrationsfeindlichen Antrag stimmte. Die SPD, die das innere und äußere Aufrüstungsprogramm der Regierung voll unterstützt, setzt dem nichts entgegen. Sie fürchtet jede Bewegung von unten weit mehr als die AfD. Sie reagiert auf ihren eigenen Niedergang und die Erstarkung der Ultrarechten mit dem Ruf nach einem AfD-Verbot, das die repressivsten Kräfte im Staatsapparat stärken und als Vorwand für die Unterdrückung jeder linken Opposition gegen die kapitalistische Herrschaft dienen würde.
Der einzige Weg, den Aufstieg der AfD und die Rechtswendung im Staatsapparat zu stoppen, ist der Aufbau einer internationalen sozialistischen Bewegung in der Arbeiterklasse und der Jugend, die den Kampf gegen Krieg, Militarismus, Sozialabbau und Diktatur mit dem Kampf gegen Kapitalismus und für eine sozialistische Gesellschaft verbindet.