Zur Erinnerung an Nathan Steinberger: Kämpfer gegen Faschismus und Stalinismus

Am 16. Juli jährt sich zum 115. Mal der Geburtstag von Nathan Steinberger, ein jüdischer Sozialist und Überlebender des stalinschen Terrors in der Sowjetunion. Er starb vor 20 Jahren am 26. Februar 2005 in Berlin.

Gerade in diesem Jahr ist die Erinnerung an die Familie Steinberger bedeutsam. Sie stand im Brennglas der Geschichte des 20. Jahrhundert, die, wie die WSWS in ihrem Nachruf schrieb, „gekennzeichnet war durch revolutionären Aufbruch und tragische Niederlagen der Arbeiterbewegung“.

Erneut steht die Welt am Abgrund. Die kapitalistische Krise treibt auf einen dritten Weltkrieg zu. Die Rückkehr der faschistischen Gefahr, nicht nur in den USA mit der Machtübernahme der Regierung Trump, sondern ebenso in Deutschland, dem Land mit den bisher größten faschistischen Verbrechen, unterstreicht die Bedeutung ihres Lebens.

Nathan gehörte zu den vielen jüdischen Arbeitern und Jugendlichen, die sich nach der Niederschlagung der Novemberrevolution 1918/19 und dem Verrat der Sozialdemokratie für den Aufbau einer neuen revolutionären Partei engagiert hatten. Als Hitler an die Macht kam, befanden sich Nathan und seine spätere Frau Edith in der Sowjetunion und gerieten in den Großen Terror Stalins, dem so viele KPD-Mitglieder zum Opfer fielen und den Nathan, wie auch Edith, nur knapp überlebten.

Trotz dieser Erfahrungen hielt Nathan an seinen sozialistischen Überzeugungen fest. Immer wieder wandte sich Nathan seit den 1990er Jahren gegen die Behauptung, der Stalinismus sei realer Sozialismus gewesen.

Bei einer Versammlung an der Berliner Humboldt-Universität 1998, die der BSA (Bund Sozialistischer Arbeiter), die Vorgängerorganisation der Sozialistischen Gleichheitspartei, anlässlich des Tods des russischen Historikers Wadim Rogowin organisiert hatte, sagte er wörtlich: „Die Behauptung, es habe eine einheitliche Linie von der Oktoberrevolution zum Stalin-Regime gegeben, und es habe keinerlei Umbruch stattgefunden, möchte ich betonen: Das ist absolut unrichtig! Die Tschistka (Säuberung, die Red.) ist in erster Linie ein Kampf gegen die Kräfte der Oktoberrevolution gewesen. Stalins Politik war darauf ausgerichtet, die Oktoberrevolution zu liquidieren.“

Bis ans Lebensende war Nathan ungebrochen. Er hatte große Sympathien für die Arbeit der Trotzkisten im Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI) entwickelt und traf sich mehrfach mit Vertretern der WSWS zu Interviews und Gesprächen. „Wer Stalin überlebt, wird ewig leben“, sagte er einmal scherzhaft der Autorin dieser Zeilen. Gewissermaßen hatte er Recht, auch wenn er selbst mit fast 95 Jahren im Jahr 2005 starb.

Sein Festhalten an einer sozialistischen Zukunftsperspektive hat sich als lebensfähiger erwiesen als die demoralisierte Propaganda nach dem Untergang der DDR und der Sowjetunion, der Sozialismus sei endgültig tot und mache einem ewig florierenden und friedlichen Kapitalismus Platz.

Noch nach Nathans Tod wirkte sein Leben, seine Überzeugung nach. Jahr für Jahr trafen sich Freunde und Verwandte zu einem Gartenfest seiner Tochter Marianne im Juli und debattierten über die Lehren aus dem 20. Jahrhundert. Marianne starb vor zwei Jahren mit 88 Jahren und ist neben ihren Eltern auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee begraben.

Anlässlich des Jahrestags von Nathan Steinbergers Geburtstag und seines Tods veröffentlichen wir noch einmal an dieser Stelle den Nachruf der WSWS aus dem Jahr 2005.

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Ein Leben, geprägt vom Kampf gegen Faschismus und Stalinismus

5. März 2005

Am 26. Februar starb Nathan Steinberger im Alter von 94 Jahren in einem Berliner Krankenhaus. Er folgte seiner Frau Edith, die bereits vor vier Jahren gestorben war. Nathan und Edith Steinberger gehörten zu den letzten Zeitzeugen einer geschichtlichen Periode, die gekennzeichnet war durch revolutionären Aufbruch und tragische Niederlagen der Arbeiterbewegung. Ihr Leben war geprägt durch die furchtbare Erfahrung des Faschismus und vor allem des stalinschen Terrors, den sie als KPD-Mitglieder in der Sowjetunion nur knapp überlebten.

Nathan Steinberger im Interview 1997 [Photo: WSWS]

1910 im Zentrum Berlins als jüngstes Kind einer jüdisch-orthodoxen Familie geboren, wuchs Nathan in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein frühes Weltbild prägte sich durch Krieg und Hunger und die darauffolgenden revolutionären Kämpfe der Arbeiter in Berlin. Ebenso prägten ihn der kulturelle Aufschwung der 1920er Jahre. Für seine ältere Schwester musste er als Fünfjähriger für Opern- und Theaterkarten anstehen, sein älterer Bruder probte zuhause mit einer Dada-Theatergruppe, er selbst verdiente sich sein Taschengeld als Statist an verschiedenen Bühnen, und bis ins hohe Alter verblüffte er seine Besucher durch seine Kenntnis der Literatur und Malerei.

Als der Erste Weltkrieg begann, war Nathan vier, und als die Russische Revolution ausbrach, sieben Jahre alt. Im Alter von 90 Jahren nach seiner Kindeserinnerung befragt, erzählte Nathan Steinberger: „Die russische Oktoberrevolution hat Berlin aufgewühlt. Die Namen Lenin und Trotzki waren in aller Munde. Rückblickend steht für mich fest: Es waren die russischen Ereignisse, die einen kolossalen Einfluss auf das Leben in Berlin und ganz Deutschland ausübten.“

Einige der großen Demonstrationen und Straßenkämpfe der Novemberrevolution 1918 fanden in unmittelbarer Umgebung der Wohnung der Familie Steinberger statt. Oft spielte Nathan zusammen mit seinem jüngeren Bruder Leo mit den Patronenhülsen, die sie in den Feuerpausen der Schlachten zwischen Spartakus-Anhängern und Freikorpssoldaten auf der Straße einsammelten. Nach der Schule schloss er sich manchmal den Massendemonstrationen an und abends lief er von zu Hause fort, um den hitzigen politischen Debatten von KPD-, USPD- und SPD-Arbeitern in nahe gelegenen Versammlungssälen zu lauschen.

Unter dem Einfluss seines älteren Bruders Adolf, der später von den Nazis im Konzentrationslager Mauthausen ermordet wurde, schloss sich Nathan bald der kommunistischen Bewegung an. Mit 14 Jahren wurde er Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands und beteiligte sich am Aufbau der Kommunistischen Pennälerfraktion und des Sozialistischen Schülerbunds. Hier übernahm er eine führende Rolle.

In sehr jungen Jahren lernte Nathan auch die Probleme der deutschen Arbeiterbewegung kennen und erlebte ihren Versuch, die Russische Revolution in Deutschland zu wiederholen.

An das Jahr 1923 erinnerte er sich als ein Jahr voller Hoffnung und Spannung, sowohl unter kommunistischen als auch sozialdemokratischen Arbeitern. Das ganze Jahr über kam es zu Streiks. „Es lag in der Luft. Jeder, der politisch wach war, fühlte – bald wird es losgehen!“, erzählte Nathan Steinberger. „Wir alle, die Arbeiterschaft in Berlin und die Jugend, fieberten der deutschen Oktoberrevolution entgegen. Ich habe das damals deutlich empfunden.“

Umso größer war die Enttäuschung, als die KPD-Führung endlos zögerte und den Höhepunkt der Bewegung verpasste. „Eines Tages merkte ich, die Sache ist aus. Plötzlich kam es zu einem Stillstand. Ich konnte es mir nicht erklären, irgendwie ließ auf einmal die Spannung nach und Enttäuschung machte sich breit. Die nicht bei der KPD organisierten Arbeiter waren besonders enttäuscht. Es herrschte einige Tage lang eine bedrückende Stille.“

Mit den Fraktionskämpfen, die sich in der russischen Kommunistischen Partei zwischen der Stalin-Fraktion und der Linken Opposition unter Leo Trotzki entwickelten, brachen nach 1923 Auseinandersetzungen auch in der KPD aus. Nathan, noch zu jung, um die politischen Fragen zu erfassen, wurde dennoch 1926 mitsamt seiner Ortsgruppe aus dem Kommunistischen Jugendverband ausgeschlossen. Begründet wurde dies mit dem Einfluss von Karl Korsch auf die Gruppe, einem führenden Kritiker der Parteilinie.

Nathan Steinberger blieb im Sozialistischen Schülerbund aktiv. Gemeinsam mit seinen Freunden diskutierte er nicht nur über Politik, sie organisierten auch Gespräche mit Erich Kästner, Arnold Zweig und anderen Schriftstellern oder Debatten über Fragen der Psychologie und Sexualität. Nach seinem Abitur 1929 schrieb sich Nathan zunächst an der medizinischen Fakultät ein, in der Hoffnung, auf diese Weise sein Lieblingsfach Psychologie studieren zu können, wechselte dann aber zur Nationalökonomie. Er spezialisierte sich auf Agrarwissenschaft und arbeitete mit dem bekannten Wissenschaftler Karl Wittfogel zusammen, damals Vertreter des Internationalen Agrarinstituts in Moskau.

Ungeachtet seines früheren Ausschlusses aus dem Kommunistischen Jugendverband wurde Nathan 1928 Mitglied der KPD. Im selben Jahr begannen heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Partei über die von Stalin inspirierte „Sozialfaschismus-Theorie“. Sie behauptete, es gäbe zwischen Sozialdemokratie und Faschismus keinen Unterschied, und war hauptverantwortlich dafür, jeden gemeinsamen Kampf von sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitern gegen den wachsenden Einfluss der Faschisten zu untergraben.

Nathan lehnte diese Position instinktiv ab. Später sagte er dazu: „Dieser ultralinke Kurs war eine Sache für politische Analphabeten. Diejenigen, die die Erfahrungen der Revolution von 1918 und 1923 hinter sich hatten, lehnten überwiegend die Gleichsetzung der SPD und der Faschisten ab. Ich habe jedenfalls das Wort Sozialfaschismus niemals in den Mund genommen, wenn ich Straßenagitation betrieb.“

In dieser Zeit kam Nathan Steinberger auch zum ersten Mal mit den Schriften Leo Trotzkis in Berührung, der für eine Einheitsfront von KPD- und SPD-Arbeitern gegen den aufkommenden Faschismus eintrat.

Kurze Zeit später sollte sich das Leben von Nathan Steinberger grundlegend ändern. Auf Empfehlung von Karl Wittfogel wurde er noch vor Beendigung seines Studiums 1932 nach Moskau an das Agrarinstitut berufen. Seine zwei Jahre ältere Freundin Edith, ebenfalls aktives KPD-Mitglied, ging mit. Der Aufenthalt in Moskau war für zwei Jahre geplant, aber als Hitler 1933 an die Macht kam, gab es für die beiden jungen Leute kein Zurück mehr. Nicht nur dass sie bekannte KPD-Mitglieder waren, sie waren außerdem noch Juden.

Nathan und Edith Steinberger 1997 [Photo: WSWS]

Die Niederlage der Arbeiterbewegung und der Sieg des Faschismus in Deutschland hatten Nathan und Edith tief erschüttert. Zur gleichen Zeit mussten sie die Erfahrung machen, dass die Sowjetunion unter Stalins Regime nichts mehr von der revolutionären Aufbruchstimmung der 1920er Jahre ausstrahlte, die beide in die Politik gebracht hatte. Im Agrarinstitut erfuhr Nathan von älteren Kollegen, welche furchtbaren und grausamen Ereignisse im Zuge der Zwangskollektivierung auf dem Lande stattfanden. Er lernte alte Bolschewiken wie Fritz Platten, einen Schweizer Revolutionär und engen Mitarbeiter Lenins, kennen und musste erleben, wie er und andere alte Parteimitglieder zunehmend isoliert wurden. Die Anhänger Leo Trotzkis waren zu diesem Zeitpunkt längst verhaftet. Auf den Parteiversammlungen, an denen Nathan teilnahm, gab es kaum mehr offene politische Diskussionen. Die Parteidemokratie wurde zusehends von Bürokratismus und Intrigen erstickt.

Nathan promovierte 1935 zum Thema „Die Agrarpolitik des Nationalsozialismus“, und seine Arbeit wurde noch veröffentlicht. Doch schon kurze Zeit später wurde seine wissenschaftliche Tätigkeit jäh unterbrochen. Nach dem Mord an dem Leningrader Parteisekretär Kirow begannen die großen Säuberungen. Nicht nur bekannte Oppositionelle, sondern auch bisher treue Stalin-Anhänger gerieten in die Fänge der stalinistischen Geheimpolizei GPU. 1936 wurde Nathan aus dem Agrarinstitut entlassen und versuchte zunächst, die Familie – seine Tochter Marianne war 1935 zur Welt gekommen – mit Deutschunterricht über die Runden zu bringen.

Nach dem ersten Moskauer Schauprozess erfasste die Verhaftungswelle auch die deutschen Emigranten, die vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet waren. „Stalin“, so Nathan später, „richtete sich gegen jeden, der ein potentieller Kritiker seiner Politik sein könnte. Und er wusste, dass die Niederlage in Deutschland vor allem das Ergebnis seiner Politik gewesen war.“

Am Vorabend des 1. Mai 1937 wurde Nathan abgeholt. Seine Frau Edith ereilte dasselbe Schicksal 1941 mit Beginn des deutschen Einmarschs in die Sowjetunion. Die damals sechsjährige Marianne wurde von einer befreundeten jüdischen Familie aufgezogen.

Das Martyrium, das nun begann, endete erst 1956. Nathan kam zunächst ins berüchtigte Butyrka-Gefängnis und wurde von dort nach Kolyma in Sibirien transportiert. Ihm wurde „konterrevolutionäre trotzkistische Tätigkeit“ vorgeworfen und unter anderem sein Ausschluss als 15-Jähriger aus dem KJVD zur Last gelegt. Seine Frau wurde in ein Arbeitslager in Kasachstan deportiert und entkam dort nur knapp dem Tod.

In der Burtyrka wurde Nathan klar, dass die Verhaftungen nicht willkürlich waren. Sie richteten sich in erster Linie gegen die ergebensten Parteimitglieder, die die Oktoberrevolution mitgetragen hatten. In seiner ersten Zelle traf er einen Sohn des Linksoppositionellen Sinowjew und den alten Bolschewiken und Parteihistoriker Wladimir Iwanowitsch Newskij, der 1917 im Petrograder Revolutionskomitee an der militärischen Vorbereitung des Aufstands beteiligt und in der ersten Arbeiterregierung unter Lenin Verkehrsminister war. Nur wenige Wochen nach Nathans Einlieferung ins Butyrka-Gefängnis wurde Newskij aus der Zelle geführt und erschossen.

Nathan und Edith Steinberger überlebten, im Gegensatz zu fast allen ihren Freunden jener Zeit. Mit ihrer Tochter wieder vereint, durften sie 1956 nach Berlin zurückkehren, unterlagen aber in der DDR einer strikten Schweigepflicht. Nicht ein einziges Wort durfte über die stalinistischen Lager gesprochen werden. Erst mit dem Untergang der DDR und der anschließenden Auflösung der Sowjetunion begann Nathan Steinberger, seine Erfahrungen unter dem stalinistischen Terror zu berichten. Im Gegensatz zu anderen überlebenden Gulag-Häftlingen wandte er sich jedoch nicht nach rechts, sondern blieb den sozialistischen Idealen seiner Jugend treu ergeben.

Verena Nees und Ulrich Rippert im Gespräch mit Nathan Steinberger [Photo: WSWS]

Immer wenn er die Gelegenheit dazu hatte, betonte Nathan, dass Stalinismus nicht mit Sozialismus gleichgesetzt werden darf. Zu seinem 90. Geburtstag, den er mit vielen Freunden und Bekannten feierte, fasste Nathan Steinberger die Schlussfolgerung aus seinem Leben in den Worten zusammen: „Ich will der Jugend verständlich machen, was Stalinismus war. Der Sozialismus muss endgültig vom Kehricht der Lüge, vom Kehricht der Fälschung, vom Kehricht der Unterdrückung – vom Stalinismus gereinigt werden. Die Regime in der Sowjetunion und in deren Einflussbereich hatten nichts, aber auch gar nichts mit Sozialismus zu tun.“

Die letzten Jahre waren nicht einfach für Nathan Steinberger. Er verlor seine Frau und immer mehr alte Bekannte, im letzten Jahr auch seinen Schulfreund Max Kahane, den er noch aus den Tagen des Sozialistischen Schülerbunds kannte. Er konnte kaum mehr schreiben und seine Schwerhörigkeit machte ihm schwer zu schaffen. Es wurde einsam um ihn. Was ihm dennoch bis zuletzt seinen Sinn für Humor und seine Lebensfreude erhalten hat, war die Überzeugung, dass neue Generationen die Lehren der 1930er Jahre ziehen und wieder an dem Kampf seiner Generation für eine bessere Gesellschaft anknüpfen werden.

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