Ein „Manifest“ ehemals führender SPD-Mitglieder, das für Europa eine „Strategie der Deeskalation“ statt „einen neuen Rüstungswettlauf“ fordert und für eine „schrittweise Rückkehr zur Zusammenarbeit mit Russland“ eintritt, hat erhebliche Wellen geschlagen.
Das Papier wurde von mehreren Dutzend ehemals hochrangigen Parteimitgliedern unterzeichnet – darunter Ralf Mützenich, der bis zum Februar dieses Jahres die SPD-Bundestagsfraktion führte, das Ex-Vorstandsmitglied Ralf Stegner und der Ex-Parteivorsitzende Norbert Walter-Borjans. Auch der frühere Bundesfinanzminister Hans Eichel, Ex-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin und der Historiker und Kanzler-Sohn Peter Brandt haben das Manifest unterschrieben.
Was von den Medien als Kampfansage an den Parteivorsitzenden und Vizekanzler Lars Klingbeil und Verteidigungsminister Boris Pistorius dargestellt wird, ist in Wirklichkeit nichts dergleichen. Zwei Wochen vor dem Bundesparteitag der SPD veröffentlicht, soll das Manifest die Empörung über den Aufrüstungskurs der Partei auffangen, der ihr im Februar das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte eingebracht hat.
Während das Manifest die Entspannungspolitik der 1970er Jahre, die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975, Rüstungskontrolle und Verständigung beschwört und vor „militärischer Alarmrhetorik und riesigen Aufrüstungsprogrammen“ warnt, stimmt es in allen grundlegenden Fragen und den Schlussfolgerungen daraus mit der Regierungspolitik überein. „In dem Papier steht nichts Anrüchiges, es ist kein Russlandpapier,“ betonte Mützenich im Interview mit der Süddeutschen Zeitung.
Mützenich weiß, wovon er spricht. Als SPD-Fraktionsvorsitzender hatte er 2022 im Bundestag für das 100-Milliarde-Sondervermögen zur Aufrüstung der Bundeswehr und 2025 für die Kriegskredite über 1 Billion Euro die erforderlichen Mehrheiten organisiert. Wenn er sich jetzt gegen „Kräfte“ wendet, „die die Zukunft vor allem in einer militärischen Konfrontationsstrategie und hunderten Milliarden für Aufrüstung suchen,“ ist dies ein durchsichtiger Versuch, die eigenen Spuren zu verwischen.
Das Manifest spricht sich denn auch eindeutig für Aufrüstung aus. „Dabei ist klar,“ heißt es darin. „Eine verteidigungsfähige Bundeswehr und eine Stärkung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Europa sind notwendig.“
Auch „eine eigenständige Verteidigungsfähigkeit der europäischen Staaten unabhängig von den USA“, einer der wichtigsten Gründe für die massive Erhöhung der Militärausgaben, wird vom Manifest explizit unterstützt. Bei allem Gerede über „Entspannung“ und „Zusammenarbeit“ wird Russland wegen seines „völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine“ eindeutig als Gegner identifiziert.
Das Manifest fordert also keine Abkehr von der Kriegsoffensive gegen Russland, sondern versucht lediglich, sie mit einigen Phrasen über „Rüstungskontrolle“ und „Verständigung“ zu verbrämen.
Umso bemerkenswerter ist die aggressive Reaktion führender SPD-Politiker. Sie zeigt, dass an dieser Partei, die ihren Aufstieg vor mehr als 150 Jahren unter dem Banner des Marxismus begann, nichts mehr sozial oder demokratisch ist. Sie tritt ebenso aggressiv für die imperialistischen Ziele des deutschen Kapitals und die damit verbundenen sozialen Kürzungen ein, wie die CDU/CSU, die FDP, die Grünen und die AfD. Mit dem Verteidigungs- und dem Finanzministerium leitet die SPD die beiden Schlüsselressorts, um diese Ziele zu verfolgen.
Verteidigungsminister Pistorius warf dem Manifest „Realitätsverweigerung“ vor. Es missbrauche „den Wunsch der Menschen in unserem Land nach Frieden“. Mit Putin könne man nur aus einer Position der Stärke verhandeln. Das sei „auch die Politik Willy Brandts gewesen – unter dessen Regierung der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt deutlich höher war als heute. Keine Unterwerfung.“
Passenderweise besuchte Pistorius am Mittwoch Kiew und stellte der Ukraine dort weitere 1,9 Milliarden Euro Militärhilfe in Aussicht. Deutschland sei bereit, die Finanzierung von sogenannten „Long-Range-Fire-Systemen“, also Raketen, die Ziele in Russland selbst angreifen können, mitzuübernehmen, verkündete Pistorius auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Zudem werde Deutschland die Rüstungskooperation mit der Ukraine vorantreiben.
Vor diesem Hintergrund bezeichnete auch der ehemalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Michael Roth, das Manifest als „selbstgefälliges und selbstsüchtiges Wohlfühlpapier“. Er selbst sei in der Vergangenheit vom Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ überzeugt gewesen. In einer Welt der „Diktatur und des Imperialismus“ stimme dieser Satz aber nicht mehr.
Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Sebastian Fiedler, sagte, das Papier habe ihn „irritiert, verstört und verärgert“. Da sei „sogar von Zusammenarbeit mit Russland die Rede, also mit einem Kriegsverbrecher“. Er sei „absolut ein Befürworter des Kurses der Bundesregierung“, betonte Fiedler.
Auch die Grünen, die nicht mehr an der Regierung beteiligt sind, aber die Aufrüstung und den Krieg gegen Russland vorbehaltlos unterstützen, wetterten gegen das Manifest. Die stellvertretende Fraktionschefin Agnieszka Brugger bezeichnete den Aufruf zu Verhandlungen mit Russland als „Wunschdenken, denn ein solcher Kurs führt leider gerade nicht dazu, dass ein skrupelloser Imperialist die Gewalt beendet“.
Brugger bezeichnete die Unterzeichner des Manifests als „die üblichen Verdächtigen“, die „bei der Postenvergabe in der SPD leer ausgegangen“ seien. Sie forderte die SPD-Führung auf, „die Attacken aus den eigenen Reihen auf den Kurs der Bundesregierung“ nicht einfach laufen zu lassen. „Wer Frieden will, muss auf Basis der Realität dafür sorgen, dass unsere Sicherheit gewahrt bleibt.“
Der Kriegskurs von SPD und Grünen entlarvt auch die Linkspartei, die – ähnlich wie das Mützenich-Stegner-Manifest – gelegentlich einige kritische Worte über die Aufrüstung verliert. Doch wenn es darauf ankommt, steht sie uneingeschränkt hinter der Kriegspolitik – wie im Bundesrat, wo sie für das Eine-Billion-Aufrüstungspaket stimmte, oder bei der Kanzlerwahl, wo sie Friedrich Merz (CDU) nach seiner Niederlage im ersten Wahlgang aus der Patsche half.
Die ganze Perspektive der Linken ist darauf ausgerichtet, mit den Kriegsparteien SPD und Grüne – und, wenn es sein muss, auch mit der CDU – eine gemeinsame Regierung zu bilden. Und wenn sie einmal auf Ministersesseln sitzt, wie in Berlin, Bremen und mehreren ostdeutschen Bundesländern, verschwindet ihr linkes Gerede wie ein Morgennebel. Sie kürzt die Sozialausgaben, schiebt Flüchtlinge ab und rüstet die Polizei auf wie alle anderen Parteien auch.
Von den im Bundestag vertretenen Parteien und den mit ihnen verbundenen Gewerkschaften wird es keine Opposition gegen den Rüstungswahnsinn und die Kriegsgefahr geben. Sie kann nur von einer unabhängigen Bewegung der internationalen Arbeiterklasse kommen, die den Kampf gegen Krieg, Faschismus und Sozialabbau mit dem Kampf gegen ihre Ursache, den Kapitalismus verbindet.