Dass die Trump-Regierung die Frau und die Kinder des gebürtigen Ägypters Mohamed Sabry Soliman verhaftet hat und abschieben will, weil er beschuldigt wird am 1. Juni eine pro-israelische Demonstration in Boulder (Colorado) angegriffen zu haben, stellt ein neues und bedrohliches Stadium des Abgleitens der amerikanischen herrschenden Klasse in die Gesetzlosigkeit dar.
Hayam El Gamal und ihre fünf Kinder im Alter von vier bis siebzehn Jahren wurden am frühen Dienstagmorgen in ihrem Haus in Colorado Springs verhaftet und „in der Dunkelheit der Nacht“ in das mehr als 1.400 Kilometer entfernte Familienhaftzentrum Dilley in Texas verschleppt. Erst eine verzweifelte Suche durch die Anwälte der Familie brachte Aufschluss über ihren Verbleib.
Die sofortige Abschiebung der Familie im Rahmen der von der Trump-Regierung verfolgten Politik der „beschleunigten Abschiebung“ konnte nur durch eine Eilverfahren und eine einstweilige Verfügung von US-Bezirksrichter Gordon Gallagher verhindert werden. Eine Anhörung ist für den 13. Juni angesetzt.
Es ist nichts darüber bekannt, dass sich ein prominenter demokratischer Abgeordneter oder Parteifunktionär zur Verteidigung von El Gamal oder ihren Kindern geäußert hätte.
Trumps Anwälte argumentieren in ihren Schriftsätzen, alle Familienmitglieder hätten gegen ihren befristeten Visastatus verstoßen. Doch El Gamal und ihre Kinder werden nicht wegen angeblicher Verstöße gegen Visabestimmungen bestraft, sondern für die Verbrechen des Familienvaters. Das Weiße Haus hat das selbst klargestellt.
Am Dienstag erschien ein offizieller Social-Media-Post des Weißen Hauses, in dem Trump in seinem üblichen Gangster-Stil mit der Verhaftung und der geplanten Abschiebung der Familie prahlte: „Ehefrau und Kinder des Illegalen Ausländers, der für den antisemitischen Brandanschlag verantwortlich ist, könnten SCHON HEUTE ABEND ABGESCHOBEN WERDEN.“ Der Post erhielt ein Bild von Soliman und ein Flugzeug-Emoji mit dem Text: „Sechs Einzelfahrkarten für Mohameds Frau und fünf Kinder. Letzter Aufruf erfolgt bald.“
Nach dem Post des Weißen Hauses bestätigte Heimatschutzministerin Kristi Noem auf X, dass Solimans Familie in ICE-Gewahrsam genommen wurde: „Wir untersuchen, in welchem Ausmaß seine Familie von diesem abscheulichen Anschlag wusste, ob sie Kenntnis davon hatte oder ob sie ihn unterstützt hat.“
El Gamals Anwälte erklärten, sie habe nichts von den Plänen ihres Mannes gewusst, die zionistische Kundgebung in Boulder anzugreifen. Noems Behauptung, kleine Kinder, von denen eines erst vier Jahre als ist, könnten an der Planung des Anschlags beteiligt sein, ist offenkundig absurd.
Doch die Auswirkungen des Angriffs auf El Gamal und ihre Kinder gehen noch weit über die Missachtung des Rechtsstaatsprinzips hinaus, die für die Trump-Regierung zum Alltag gehört.
Der Anwalt der Familie, Eric Lee, erklärte gegenüber der New York Times: „Einzelne Personen für das mutmaßliche Handeln ihrer Verwandten zu bestrafen, ist ein Merkmal vormoderner Justizsysteme oder polizeistaatlicher Diktaturen, nicht von Demokratien... Die Inhaftierung und versuchte Abschiebung dieser Familie ist ein Angriff auf grundlegende demokratische Prinzipien und sollte in der Bevölkerung, sowohl bei Einwanderern als auch unter Nichteingewanderten, großen Widerstand auslösen.“
Damit hat Lee Recht. Wie in so vielen anderen Bereichen, in denen sich die Trump-Regierung über demokratische Rechte hinwegsetzt, ist der Schritt, die Bestrafung von Familien als politische Waffe einzusetzen, Absicht. Sie will die grundlegendsten Prinzipien demokratischer Rechte und des Verfassungsrechts aushebeln.
Tatsächlich beruht das gesamte amerikanische Rechtssystem auf dem Konzept, dass nicht die Familie oder Sippe, sondern die Einzelperson für ihre Handlungen verantwortlich ist. Nur ein Erwachsener, der mutmaßlich gegen das Gesetz verstößt, muss sich vor Gericht gegenüber dem Staat verantworten, keine anderen Teile der Gesellschaft wie die Familie oder Gemeinde. Kinder tragen keinerlei Verantwortung für die Verbrechen ihrer Eltern.
Die Bedeutung dieser Ideen – historische Errungenschaften der Aufklärung und der Amerikanischen Revolution – wird deutlich, wenn man sie mit den vorherigen Zuständen vergleicht. So wurde zum Beispiel im Zehntensystem des mittelalterlichen Englands die erweiterte Sippe kollektiv für das Verhalten des einzelnen verantwortlich gemacht. Dieser Kodex wurde durch ein Band der Gegenseitigkeit, das sogenannte „Frankpledge“, aufrecht erhalten. Wenn ein Mitglied der Zehentgemeinschaft ein Verbrechen begangen hatte oder eines Rechtsbruchs beschuldigt wurde, konnte die gesamte Gruppe von den Behörden mit einer Geldstrafe belegt oder auf andere Weise bestraft werden.
Im mittelalterlichen Frankreich übten Adelige im Rahmen des Seigneurie banale die örtliche Gerichtsbarkeit aus und konnten gegen Gemeinschaften Geldbußen oder andere Strafen verhängen, wenn sie ihren Verpflichtungen nicht nachkamen oder für Störungen innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs sorgten. Adelige hatten das Recht, verschiedene Abgaben, Pachten und Dienste von den Bauern zu verlangen. Diese konnten entweder in Form von Münzen oder von Arbeit gezahlt werden, und die Adligen setzten sie oft mit Zurschaustellung von Macht durch. Adelige erschienen manchmal zu Pferde mit gezogenem Säbel, um ihre Rechte geltend zu machen und ihre Schulden einzutreiben.
Dieses feudale System von Verbrechen und Strafe – in Wirklichkeit ein System der Vergeltung, das vom König bis zu den niederen Ständen in einer langen Kette von Unterordnung und Demütigung verlief – abzuschaffen, war das Werk der gesamten Aufklärung. Doch von entscheidender Bedeutung auf die Gründerväter der USA war der Einfluss von Cesare Beccarias Werk Von den Verbrechen und von den Strafen (1764). Beccaria betonte, die Strafe solle rational und verhältnismäßig sein und nur auf die für das Verbrechen verantwortliche Person angewendet werden. Die Legitimität der Strafe beruhe auf ihrer Rationalität und ihrer Ausrichtung auf den einzelnen Straftäter. Zum Schluss schrieb er: „Die Würde der menschlichen Natur macht es erforderlich, dass der Mensch für seine eigenen Taten bestraft wird.“
Laut dem Rechtswissenschaftler John Bessler „ließen sich die ersten vier US-Präsidenten – George Washington, John Adams, Thomas Jefferson und James Madison – von Beccarias Abhandlung inspirieren und hatten ihn teilweise sogar im italienischen Original gelesen“. Beccarias Vorgaben folgend, verankerte die Amerikanische Revolution das Prinzip, dass die Verbrechen der Eltern, die nur durch einen Prozess bewiesen werden können, deren Kinder nicht belasten können. Weder Schulden noch Verbrechen konnten vererbt werden. Der Historiker Michael Grossberg schrieb dazu: „Ausgehend von Virginia in den 1780ern [d.h. dem Virginia von Washington, Jefferson und Madison] änderte ein Staat nach dem anderen seine Gesetze, um der neuen Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass Kinder nicht für die Sünden ihrer Eltern belangt werden sollten.“
Trumps Politik erinnert nicht nur an überkommene Systeme der Vergeltungsjustiz, sondern auch an die Methoden des politischen Terrors moderner Polizeistaaten. Lee wies in einem Interview mit Colorado Public Radio darauf hin, dass Trumps Vorgehen eine frappierende Ähnlichkeit mit der Sippenhaftpolitik der Nazis hat, bei der „die Behörden die Familien mitbestraft haben, um die Bevölkerung einzuschüchtern“.
Der Historiker Robert Loeffel befasst sich in seinem Werk Family Punishment in Nazi Germany: Sippenhaft, Terror and Myth mit der Reaktion auf den gescheiterten Attentatsversuch auf Hitler am 20. Juli 1944 unter der Führung von Claus von Stauffenberg. Nach dem Scheitern des Attentats, ordneten Heinrich Himmler und andere Nazi-Führer die Verhaftung und Bestrafung der Familien der Verschwörer an, unabhängig von ihrer persönlichen Beteiligung oder ihrem Wissen von dem Komplott. Frauen, Kinder und ferne Verwandte wurden verhaftet, eingesperrt oder in Lager eingewiesen, auch wenn sie nicht an dem Komplott beteiligt waren oder nichts davon wussten.
Loeffel argumentiert, die Politik der Sippenhaft sei so wirksam gewesen, weil sie in der Bevölkerung Angst und Schrecken ausgelöst habe. Zur Rechtfertigung solcher Formen von Terror und Vergeltung berief sich Himmler gerne auf das finstere Mittelalter:
Und wenn ein Mann in diesem Reich untreu ist, dann wird er und seine Familie bestraft werden. Das ist in ein altes germanisches Gesetz. Die Sippe haftet für einen jeden der ihren. Die Sippe muss sich selbst erziehen. Niemand möge uns kommen und sagen: Aber was Sie tun ist bolschewistisch. Lesen Sie die alten Sagen! Hat einer einen Meineid geleistet oder war untreu, so wurde die Sippe bestraft, man sagte ihnen schlechtes Blut nach. Ein Mann hat Verrat begangen, das Blut ist schlecht, es ist Verräterblut und es wird ausgemerzt werden.
Die wohl berüchtigtsten Beispiele für Sippenhaft im letzten Jahrhundert gab es bei Stalins politischem Völkermord an den Männern und Frauen, die die Russische Revolution angeführt hatten. Bei den Säuberungen der späten 1930er-Jahre ermordete Stalin Lenins gesamten Kader. Aber das war noch nicht alles: Er ordnete auch die Entführung und Ermordung der Großfamilien der Sozialisten an.
Die Kinder von Leo Trotzki, Stalins größtem Gegner, wurden alle ermordet oder vernichtet – auch diejenigen, die nicht an politischen Aktivitäten beteiligt waren. Beispielhaft dafür war Sergei Sedow, ein talentierter Wissenschaftler und Ingenieur, der 1937 hingerichtet wurde. Trotzki schrieb: „Sergei Sedow war kein Politiker, er war ein loyaler und ehrlicher Ingenieur. ... Sein einziges Verbrechen war, dass er mein Sohn war. Das konnte ihm Stalin nicht verzeihen.“
Der Historiker Golfo Alexopoulos beschreibt Stalins Politik mit den Worten:
Die Kollektivbestrafung von Verwandten machte die politische Unterdrückung unter Stalin erst zu einem echten Massenphänomen. In der Sowjetunion wurden politische Gegner in Gruppen von Verwandten verhaftet, Familienbande markierten Menschen als „illoyal“, der Vorwurf der „konterrevolutionären“ Tätigkeit gegen eine Einzelperson bedrohte auch ihre Verwandten. Die sowjetische Geheimpolizei OGPU-NKWD gab detaillierte Anweisungen zur Bestrafung von Gatten, Kindern, Geschwistern, Eltern und sogar Exfrauen von Staatsfeinden aus. Bei Kampagnen gegen antisowjetische Elemente wurden ganze Familien verhaftet, ob sie nun als so genannte Kulaken, Volksfeinde oder Verräter am Mutterland bezeichnet wurden.
Heute wird Sippenhaft am meisten mit der Politik des israelischen Staats in Verbindung gebracht. Human Rights Watch, Amnesty International und mehrere UN-Menschenrechtsgremien und -experten haben Israels Kollektivbestrafung von Palästinensern verurteilt, vor allem die Zerstörung von Häusern, die Apartheid-artigen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in palästinensischen Städten und Dörfern und die Deportation der Familien mutmaßlicher Terroristen. Jetzt löschen die Israelischen Verteidigungskräfte in ihrem völkermörderischen Krieg in Gaza regelmäßig die Großfamilien ihrer palästinensischen Gegner aus.
In diesem Sinne stellt die Bestrafung von Solimans Familie sowohl eine Ausweitung der israelischen Methoden der Sippenhaft in den USA dar und ist auch eine Beleg dafür, warum Sozialisten individuelle Gewalttaten wie Solimans Angriff auf die zionistische Demonstration in Boulder ablehnen müssen. Solche Aktionen demoralisieren und verwirren Arbeiter und Jugendliche nur und geben dem kapitalistischen Staat einen Vorwand für die Verschärfung der polizeilichen Unterdrückung gegen jeden politischen Widerstand.