Die Intendantin des Aachener Theaters, Elena Tzavara, hatte am 15. Mai zur Festgala zum 200-jährigen Bestehen des Hauses geladen. Die Veranstaltung war gut besucht, Theaterfreunde, Förderer und Persönlichkeiten aus Kultur und Politik ließen sich dieses Bühnenereignis nicht entgehen. In der festlichen Schau griffen das gesamte Ensemble, die Sängerinnen und Sänger, der Opernchor und das Sinfonieorchester mehrfach das Thema Romeo und Julia von Shakespeare auf und spielten es in zahlreichen Varianten spektakulär in einem bunten Feuerwerk durch. Dann kam es jedoch zu einem Eklat.
Der aus Syrien stammende Schauspieler Shehab Fatoum wich plötzlich vom vorgesehenen Skript ab. Eigentlich sollte er eine Passage aus Shakespeares Sommernachtstraum, „Zettels Traum“, sprechen. Unter einer Bank liegend sollte er eines der Romeo-und-Julia-Liebespaare mit den Worten Zettels aus dem Sommernachtstraum kommentieren. Stattdessen trat er auf die Bühne vor und sprach von seinem eigenen Traum, einem Traum vom Frieden. Er hielt eine bewegende Rede gegen den Völkermord in Gaza, angelehnt an den berühmten Friedensappell von Martin Luther King.
Nur der erste Satz entsprach noch „Zettels Traum“, dann folgte der Traum Fatoums:
Ich hatte einen Traum, es geht über den Verstand zu sagen, was es für ein Traum war.
Ich hatte einen Traum, der Krieg in Gaza ist beendet und Frieden im Nahen Osten war echt und fair für alle.
Ich hatte einen Traum, Deutschland hat eine schöne und positive Rolle für den Frieden gespielt.
Ich hatte einen Traum, Sie alle waren wunderbar in meinem schönen Traum. Sie haben alle was verändert, Ihre Perspektive verändert, statt zu ignorieren, statt Waffen zu schicken in den Nahen Osten. Sie haben nicht ignoriert, wie Menschen sterben, Menschen, die Herz und Leber und Darm und schöne Träume wie Sie haben.Ich habe einen Traum gehabt, da war es unmöglich, unerlaubt im Mittelmeer, im Internationalen Wasser Hilfsschiffe anzugreifen und zu schießen, nur weil sie Hilfsgüter und Nahrungsmittel schicken nach Gaza. Ich hatte einen Traum, wir waren alle gleich. Ich hatte einen Traum, es gab keinen Rassismus.
In einer Stellungnahme gegenüber der Aachener Zeitung, betonte der Schauspieler, er habe selbst erlebt, was Krieg bedeute, und die Verantwortung gespürt, sich zu äußern: „In einer Gala, wo viele Menschen mit Einfluss sitzen, wollte ich dem Frieden eine Stimme geben.“ Das sei seine Verantwortung als Künstler und keine Zugabe. Unter den Zuschauern habe es dafür keineswegs nur Ablehnung gegeben, meinte Fatoum, der am Ende dieser Spielzeit das Ensemble auf eigenen Wunsch verlässt.
Fatoums eher harmlose, aber bewegende Form des Protests führte jedoch zu heftigen Reaktionen. Während es aus dem Publikum und bei Schauspielkollegen auch Zustimmung gab, kam es unter Kommunal- und Landespolitikern sowie der Theaterleitung zu einem Sturm der Entrüstung.
Die Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen (Grüne), die nach der Gala mit dem Publikum, darunter auch „aufgebrachten jüdischen Mitbürgern“, über den Vorfall diskutiert hatte, erklärte: „Ich bedaure sehr, dass die stimmungsvolle und von viel Engagement und Begeisterung getragene Festveranstaltung durch diese nicht angemessene Äußerung beeinträchtigt worden ist.“
Besonders heftig fiel die Stellungnahme der Kulturministerin von Nordrhein-Westfalen, Ina Brandes (CDU), aus. In einem Post in den sozialen Medien warf sie Fatoum „einseitige pro-palästinensische Propaganda“ vor. „Antisemitismus und Israelhass haben keinen Platz in unserer Gesellschaft – nicht in der Kultur, nicht in der Wissenschaft, nirgendwo,“ schrieb sie.
Sie stimmte damit in den Chor der „Antisemitismus“ schreienden Politiker und Medien ein, die jede noch so friedliche und humanitär gemeinte Äußerung gegen den immer brutaler werdenden Genozid in Palästina verteufeln. Dies, obwohl die israelische Regierung die völkerrechtswidrige Vertreibung aller Palästinenser offiziell zu ihrer Politik erklärt hat. Sie missbrauchen die Erinnerung an den Holocaust, um die ethnischen Säuberungen des rechtsextremen, zionistischen Regimes Netanjahus zu unterstützen und Waffenlieferungen zu rechtfertigen.
Die Intendantin Elena Tzavara zeigte sich zunächst „äußerst überrascht“. Aber dann distanzierte sich die Theaterleitung ausdrücklich „von dieser Form der Zweckentfremdung der Bühne“. Sie prangerte an, dass der Abend für eine „einseitige politische Botschaft instrumentalisiert wurde“.
Mehrfach wurde der Vorwurf erhoben, Fatoums Eingriff in das Programm „für eine persönliche Meinungsäußerung“ sei in hohem Maße unangemessen gewesen, insbesondere da er in seinem Text das Massaker der Hamas unerwähnt gelassen habe.
Besonders heftig reagierte die Chefdramaturgin Kerstin Grübmeyer. Sie sei „wütend“ und schockiert, „vor allem, weil es höchst unkollegial ist, alle auf der Bühne so vor den Kopf zu stoßen“. Als ob dies das Ziel von Fatoums Friedensappell gewesen wäre. Zudem ist zu bezweifeln, dass alle Kollegen Fatoums das so empfanden, denn bei der anschließenden Feier im Spiegelfoyer des Theaters soll Fatoum von etlichen Kollegen umarmt worden sein, wohl nicht nur, weil er das Ensemble verlässt.
In Wirklichkeit war Fatoums Aufruf zu Frieden und Menschlichkeit alles andere als eine unkollegiale Provokation. Vielmehr entsprach er der besten Tradition des Theaters seit der Antike. Er hat die Verantwortung von Kunst und Künstlern wahrgenommen, für Frieden und Humanität einzutreten. Ihm ging es darum, das Theater nicht nur zu einem Ort von Spiel und Spaß, sondern auch zu einem Ort der offensiven Auseinandersetzung mit den Problemen und Übeln der Gesellschaft und der Anprangerung der Herrschenden zu machen. Er hat mit seinem Appell daher keineswegs unkollegial, sondern im Interesse der Theaterkunst und damit auch der Kollegen gehandelt.
Man sollte die Dramaturgin und die Theaterleitung auch an eine deutliche Botschaft aus einem anderen Stück Shakespeares erinnern: Im 3. Akt, Szene 2 erklärt Hamlet zum Schauspiel: „… dessen Zweck sowohl anfangs als jetzt war und ist, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten; der Tugend ihre eignen Züge, der Schmach ihr eignes Bild, und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen.“
Wie dringend es ist, die Rolle des Theaters als kritische Instanz der Gesellschaft offensiv zu verteidigen, wird deutlich, wenn man die kulturpolitischen Forderungen der AfD anschaut, die v.a. über den ultrarechten Verantwortlichen für Kultur, Wolfram Weimer, direkt Eingang in die Bundesregierung finden. Die rechtsextreme Partei, die jegliche Gesellschaftskritik im Theater verteufelt, hat „deutsche Leitkultur statt Multikulturalismus“, Brauchtum, Volkstümelei und Nationalstolz auf ihre Fahnen geschrieben.
In ihrem jüngsten Antrag (20/5226) im Bundesstag nennt die AfD dies „Verteidigung der deutschen Identität“. Sie fordert die Bundesregierung dazu auf, „die aktuelle Reduktion kultureller Identität auf eine Schuld- und Schamkultur“ durch positive Bezugspunkte kultureller Identität zu korrigieren, „um die aktive Aneignung kultureller Traditionen und identitätsstiftender Werte wieder in den Vordergrund zu rücken“. Sie fordert in Schulen Goethe und Schiller zu lesen, wobei sie die Klassiker zu harmlosen Götzen degradiert, obwohl grade diese beiden für Aufklärung und Internationalismus stehen.
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