Gesamtbevölkerung des Gazastreifens erleidet „kritisches Risiko einer Hungersnot“, warnen Vereinte Nationen

Palästinenser warten dicht gedrängt auf die Ausgabe von Lebensmitteln in Rafah im südlichen Gazastreifen, 8. November 2023. Seit Beginn des Angriffs auf den Gazastreifen hat Israel die Menge an Lebensmitteln und Wasser begrenzt, die in das Gebiet gelangen, was eine Hungersnot ausgelöst hat. (AP Photo/Hatem Ali) [AP Photo/Hatem Ali]

„Die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens ist von einer Hungersnot bedroht“, heißt es in einem am Montag veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen. Der Bericht stützt sich auf das Instrument der IPC-Skala zur Einstufung der Ernährungssicherheit (Integrated Food Security Phase Classification).

Der Bericht dokumentiert die Auswirkungen einer Politik des absichtlichen Aushungerns als Teil des US-israelischen Völkermords in Gaza. Seit dem 2. März werden keine Lebensmittel, kein Wasser und kein Strom mehr in den Gazastreifen geliefert, nachdem Israel einseitig ein Waffenstillstandsabkommen aufgekündigt hat.

„Die gesamte Bevölkerung ist mit einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit konfrontiert, und eine halbe Million Menschen - jeder Fünfte - ist vom Hungertod bedroht“, warnt der Bericht.

Er stellt fest, dass 244.000 Menschen im Gazastreifen bereits mit einer „Ernährungskatastrophe“ konfrontiert sind. Dies bezeichnet den schlimmsten Zustand nach der Skala, die Klassifizierung entspricht Hunger als Massenphänomen. Diese Einstufung bedeutet gleichsam einen Anstieg von 85 Prozent gegenüber dem früheren IPC-Bericht von Oktober 2024.

Es wird zudem erwartet, dass sich diese Zahl bis Ende September auf 470.000 betroffene Menschen fast verdoppelt. Demnach wäre dann ein Viertel der Bevölkerung des Gazastreifens von der Ernährungskatastrophe betroffen.

Der IPC-Bericht erschien nur einen Tag vor dem Besuch von US-Präsident Donald Trump im Nahen Osten. Trump beaufsichtigt letztlich die US-israelische Politik der ethnischen Säuberung des Gazastreifens in Vorbereitung auf die von ihm angekündigte Annexion des Gebiets durch die Vereinigten Staaten. Trump traf am Dienstag in Saudi-Arabien, einer diktatorisch-theokratischen Monarchie, ein. Anschließemd reist er nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate. Dabei wird erwartet, dass Trump und seine Familienmitglieder persönliche Immobiliengeschäfte in der Region tätigen.

Gerüchten zufolge wird Trump während seiner Reise die Umbenennung des Persischen Golfs in „Golf von Arabien“ verkünden. Saudi-Arabien hat bereits Waffenkäufe in Höhe von über 100 Milliarden Dollar zugesagt, darunter Flugzeuge, Raketen und Radarsysteme.

Das Weiße Haus hat sich in den letzten Tagen leicht von der Netanjahu-Regierung distanziert und über eigene diplomatische Kanäle die Freilassung einer US-israelischen Geisel ausgehandelt. Nichstdestotrotz finanziert, bewaffnet und verteidigt die Trump-Regierung weiterhin den Völkermord im Gazastreifen und die anhaltende vorsätzliche Aushungerung der palästinensischen Bevölkerung. Der US-Botschafter in Israel, Mike Huckabee, sagte zwar, er hoffe auf „den Anfang vom Ende dieses schrecklichen Krieges“. Er fügte aber auch hinzu, dass „allein die Hamas für den anhaltenden Tod und das Leiden verantwortlich ist“.

Trumps Reise findet statt eine Woche nach der Ankündigung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, den Angriff Israels auf den Gazastreifen mit der militärischen Besetzung des gesamten Gebiets abzuschließen. Zu dem Plan gehört auch die Zwangsumsiedlung der Bevölkerung in den Süden, um letztlich die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen vorzubereiten.

In einer Erklärung zu Trumps Besuch verwies Israels rechtsextremer Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir auf Trumps Segen für den Völkermord im Gazastreifen. „Wir dürfen nicht nachlassen. Präsident Trump hat Ihnen bereits Rückendeckung gegeben, um ‚die Tore der Hölle zu öffnen‘“, sagte er. Er rief dazu auf, die Blockade von Lebensmitteln und Wasser für den Gazastreifen so lange aufrechtzuerhalten, bis dieser „in die Knie gezwungen“ sei. Ziel sei es, „die freiwillige Auswanderung zu fördern“, berichtete die israelische Nachrichtenseite Srugim.

Die USA geben Israel jedes Jahr Waffen im Wert von 3,8 Milliarden Dollar. Seit Oktober 2023 haben die Vereinigten Staaten weitere Milliarden bereitgestellt, darunter Tausende von 2.000-Pfund-Bomben, mit denen der größte Teil des Gazastreifens dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Dem IPC-Bericht zufolge werden in den nächsten 11 Monaten über 70.000 Kinder und 17.000 schwangere oder stillende Frauen wegen akuter Unterernährung behandelt werden müssen.

Der IPC-Bericht verurteilt den Plan Israels, die gesamte Lebensmittelverteilung im Gazastreifen im Rahmen einer militärischen Besetzung zu übernehmen. In dem Bericht heißt es, dass der Plan „in hohem Maße unzureichend ist, um den grundlegenden Bedarf der Bevölkerung an Nahrungsmitteln, Wasser, Unterkünften und Medikamenten zu decken“.

Weiter heißt es in dem Bericht:

Darüber hinaus werden die vorgeschlagenen Verteilungsmechanismen wahrscheinlich erhebliche Zugangsbarrieren für große Teile der Bevölkerung schaffen. … Sofortiges Handeln ist unerlässlich, um weitere Todesfälle, Hunger und akute Unterernährung sowie eine Hungersnot zu verhindern.

Jonathan Crickx, ein Sprecher des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF), sagte in einer Videoerklärung:

Seit Anfang des Jahres haben wir mehr als 11.000 Kinder behandelt. ... Wir befürchten, dass in den kommenden Wochen noch mehr Kinder sterben werden.

UNICEF zeigte in einem Video ein fünf Monate altes palästinensisches Mädchen namens Sewar, das „schwer und akut unterernährt ist“, so Crickx. Und weiter:

Wenn man sich ihre kleinen Beine ansieht, hat sie nur noch die Haut auf den Knochen. Wenn sie weint, kann man das Geräusch kaum hören, weil sie so erschöpft ist.

Als Reaktion auf den IPC-Bericht schreibt die Hilfsorganisation Oxfam:

Die Hungersnot im Gazastreifen ist kein Zufall - sie ist vorsätzlich, völlig bewusst erzeugt und hat nun die größte Menschengruppe weltweit hervorgebracht, die mit Hunger zu kämpfen hat - eine vermeidbare Hungersnot, die sich in Echtzeit entfaltet.

Letzten Monat war das Welternährungsprogramm gezwungen, alle seine Bäckereien im Gazastreifen zu schließen, nachdem ihm die Lebensmittel und der Treibstoff ausgegangen waren, und Dutzende von Gemeinschaftsküchen mussten schließen. Die Lebensmittelpreise sind in die Höhe geschnellt, und ein Sack Mehl, der früher 5 Dollar kostete, kostet jetzt 500 Dollar.

Dr. Ahmed al-Farah, Leiter der Kinderklinik des Nasser-Krankenhauses in Chan Junis, sagte, dass das Krankenhaus jeden Tag zwischen 5 und 10 neue Fälle von Unterernährung aufnehme. Und weiter:

Wir haben es mit schweren Fällen zu tun. … Unterernährung zeigt sich bei Kindern auf erschreckende und sehr sichtbare Weise. ... Wir haben ihnen nichts zu bieten. Sie brauchen Proteine, aber es gibt keine.

Beth Bechdol, stellvertretende Generaldirektorin der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, erklärte gegenüber der Financial Times, dass über 95 Prozent der Tiere im Gazastreifen bereits geschlachtet wurden und 80 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen unzugänglich sind. „Die Zerstörung der Nahrungsmittelsysteme in Gaza ist weltweit beispiellos“, sagte sie. Sie fügte hinzu: „Es handelt sich um den Zusammenbruch der lokalen Nahrungsmittelproduktion.“

Seit dem 7. Oktober 2023 hat Israel mindestens 52.862 Palästinenser im Gazastreifen getötet und 119.648 verwundet, so die am Montag vom Gesundheitsministerium des Gazastreifens veröffentlichten Zahlen.

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