Steinmeier zum 8. Mai: „Wir müssen militärisch stärker werden“

Deutschland muss militärisch aufrüsten, um – geläutert durch die Erinnerung an seine historischen Verbrechen – Freiheit und Demokratie gegen Russland (und auch die USA) zu verteidigen. So lautete zusammengefasst die Kernaussage der Rede, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 8. Mai zum 80. Jahrestag der Kapitulation von Hitlers Wehrmacht hielt.

Bundespräsident Steinmeier während seiner Rede im Bundestag [Photo by DBT / Thomas Köhler / photothek ]

Steinmeier bezog sich in einer Passage seiner Rede auf Victor Klemperer, einen Sprachwissenschaftler jüdischer Abstammung, der die Nazi-Diktatur in Dresden überlebte und dessen Tagebücher zu den besten Darstellungen des Lebens im Dritten Reich gehören. Er hätte auch das Buch „LTI – Notizbuch eines Philologen“ erwähnen sollen, in dem Klemperer die Sprache des Dritten Reiches (Lingua Tertii Imperii) einer sorgfältigen Analyse unterzieht und nachweist, wie die Nazis Begriffe in ihr Gegenteil verkehrten und stereotyp wiederholten, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Derselben Technik bediente sich Steinmeier.

Der Bundespräsident sprach im Reichstagsgebäude vor den Spitzen von Staat und Gesellschaft, den Abgeordneten des Bundestags und dem Diplomatischen Corps. Zwei diplomatische Vertreter waren allerdings ausgeladen worden: Der Botschafter der Russischen Föderation, des Nachfolgestaats der Sowjetunion, die mit 13 Millionen gefallenen Soldaten und mindestens 15 Millionen getöteten Zivilisten die größten Opfer für die Niederringung des Nazi-Regimes gebracht hatte, sowie der Botschafter von Belarus.

Steinmeier begründete dies mit „Putins Angriffskrieg“ auf die Ukraine und der „Geschichtslüge“, der Krieg gegen die Ukraine sei eine Fortsetzung des Kampfs gegen den Faschismus, mit der der Kreml „imperialen Wahn, schweres Unrecht und schwerste Verbrechen“ verbräme. Er versprach, die Ukraine weiter militärisch gegen Russland zu unterstützen. „Ließen wir die Ukraine schutz- und wehrlos zurück, hieße das, die Lehren des 8. Mai preiszugeben!“

Steinmeier weiß es besser. Er war 2014 als damaliger deutscher Außenminister persönlich am Sturz des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch beteiligt, der sich geweigert hatte, ein unvorteilhaftes Abkommen mit der EU zu unterschreiben. Steinmeier traf sich mit dem Führer der rechtsextremen Swoboda-Partei, die auf Nazi-Kollaborateure aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgeht, sowie anderen politischen Vertretern ukrainischer Oligarchen, um Absetzung des Präsidenten und die Machtübergabe zu vereinbaren. Am folgenden Tag trieben bewaffnete faschistische Banden Janukowytsch in die Flucht und die Nato begann, die kollabierte ukrainische Armee systematisch aufzurüsten.

Putins Angriff auf die Ukraine war eine reaktionäre Antwort auf diese militärische Umzingelung durch die Nato. Als Vertreter der russischen Oligarchen, die die internationale Arbeiterklasse ebenso fürchten wie die russische, konnte Putin nicht an die Massen appellieren und hatte keine progressive Antwort auf das Vorrücken der Nato. Deren Krieg gegen Russland, den allein Deutschland bisher mit 13 Milliarden Euro unterstützt hat, als „Lehren des 8. Mai“ darzustellen, ist der Gipfel der Geschichtsfälschung.

Der Krieg zielt darauf ab, die Ukraine mit ihren reichen Bodenschätzen unter europäische – oder amerikanische – Kontrolle zu bringen sowie Russland als geostrategischen Rivalen auszuschalten und aufzuspalten, um ungehinderten Zugang zu seinen Rohstoffen zu bekommen.

Doch Steinmeier ging in seiner Rede noch weiter. Er machte deutlich, dass Deutschland nach zwei gescheiterten Versuchen nichts Geringeres als einen dritten Griff nach der Weltmacht plant.

„80 Jahre nach Kriegsende ist das lange 20. Jahrhundert endgültig zu einem Ende gekommen,“ sagte er. „Die Lehren aus zwei Diktaturen und zwei Weltkriegen verblassen. Die Befreier von Auschwitz sind zu neuen Aggressoren geworden.“

Auch die Vereinigten Staaten, die die Nachkriegsordnung maßgeblich geprägt hatten, wendeten sich ab. „Es ist nicht weniger als ein doppelter Epochenbruch – der Angriffskrieg Russlands, der Wertebruch Amerikas –, er markiert das Ende des langen 20. Jahrhunderts,“ so Steinmeier.

Deutschland sei „mit unserer Geschichte, mit unseren Erfahrungen besonders gut gerüstet für die Anfechtungen dieser Zeit“. Es dürfe nicht in Ängstlichkeit erstarren und müsse Selbstbehauptung beweisen.

„Wir müssen militärisch stärker werden,“ forderte Steinmeier. Er fügte zwar hinzu: „Nicht um Krieg zu führen, sondern um Kriege zu verhindern.“ Doch das ist eine andere stereotype Formel, die die Wirklichkeit auf den Kopf stellt. Deutschland führt bereits Krieg – nicht nur in der Ukraine, wo es hinter der USA der zweitgrößte Waffenlieferant ist. Es unterstützt auch den Genozid in Gaza und schickt Kriegsschiffe in den Pazifik, um die Kriegsvorbereitungen der USA gegen China zu unterstützen.

Es ist bezeichnend, dass die Worte „Gaza“, „Palästinenser“ und „China“ in Steinmeiers Rede nicht vorkamen, während er ausdrücklich „das Wunder der Versöhnung“ lobte, das „der Staat Israel uns geschenkt“ hat.

Er verurteilte den „Antisemitismus“ in Deutschland – ein weiterer Begriff, den er nach dem Muster der Lingua Tertii Imperii in sein Gegenteil verkehrt. Als „Antisemit“ gilt jetzt, wer einen Völkermord – den Genozid an den Palästinensern in Gaza – anprangert, nicht wer ihn gutheißt. Die Bilder aus dem zerbombten Gazastreifen sind inzwischen schlimmer als die aus dem zerstörten Berlin vom 8. Mai 1945. Zahlreiche internationale Institutionen und Gerichte haben den israelischen Genozid als solchen verurteilt.

Steinmeier, der versucht, ein liberales, gebildetes Publikum zu erreichen, geht nicht so weit, den verbrecherischen Charakter des Vernichtungskriegs der Nazis zu leugnen. Diese Aufgabe überlässt er anderen.

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU), die vor Steinmeier sprach, begann ihre Rede ebenfalls mit einem Bekenntnis zum „ungeheuerlichen Ausmaß der deutschen Verbrechen“. Doch dann widmete sie sich den Frauen und Mädchen, die im Krieg und auf der Flucht sexuelle Übergriffe ertragen mussten. Die stark übertriebenen Zahlen von Vergewaltigungen durch die Rote Armee sind ein beliebtes Thema revanchistischer Historiker.

Während ihre Botschafter im Bundestag Steinmeier applaudierten, veröffentlichten die Außenminister der baltischen Staaten, Polens, Tschechiens, Moldaus und der Ukraine in der New York Times einen gemeinsamen Artikel, der die wirklichen Ziele der Nato-Kriegsoffensive offen ausspricht.

Die Außenminister leugnen, dass die Rote Armee Europa vom Faschismus befreit hat, indem sie die Staaten, die nach dem Krieg in Osteuropa und Ostdeutschland entstanden, mit der Nazi-Diktatur gleichsetzen.

„Wir gedenken unserer gefallenen Eltern, Großeltern und anderer Verwandter, die unsere Freiheit gegen zwei Tyranneien des letzten Jahrhunderts verteidigt haben,“ schreiben sie. Neben den Opfern der Nazis gedenken sie der „Millionen von Opfern der sowjetischen Repressionen, die auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs unvermindert fortgesetzt wurden, während Europa sich nach dem Krieg wiedervereinigte und neu aufbaute“.

Tatsächlich wurden unter stalinistischer Herrschaft zahlreiche Nazi-Verbrecher bestraft, während in Westdeutschland selbst Massenmörder Karriere machten. Die Großgrundbesitzer, die viele Offiziere der Wehrmacht gestellt, und die Kapitalisten, die Hitler finanziert hatten, wurden enteignet, während sie in Deutschland ihre auf den Knochen von Millionen Zwangsarbeitern verdienten Vermögen behielten.

Die stalinistischen Herrscher unterdrückten ihre politischen Gegner im Interesse einer privilegierten Bürokratie. Aber sie errichteten weder Massenvernichtungslager noch führten sie Vernichtungskriege. Die heutigen Regierungen in diesen Ländern verkörpern die kriminellen Oligarchen, die durch die Plünderung des gesellschaftlichen Eigentums reich wurden und darauf brennen, als Juniorpartner der Großmächte Russland zu plündern.

Als „Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg“ bestehen die Außenminister auf der Fortsetzung des Kriegs gegen Russland. Sie verlangen die vollständige Rückgabe der Ostukraine und der Krim. „Den Aggressor zu beschwichtigen führt zu mehr Aggression, nicht zu Frieden,“ schreiben sie. „Zugeständnisse bei unrechtmäßigen Gebietsansprüchen sind ein verhängnisvoller Fehler.“

Sie fordern eine angemessene Bewertung „beider totalitärer Ideologien – der nationalsozialistischen und der sowjetischen“, die Verurteilung aller „Verbrechen des sowjetischen Regimes“ vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, russische Entschädigungen „für die Schäden der Besatzung“ sowie „Rechenschaft für die aktuellen Verbrechen Russlands, auch nach dem künftigen Sturz des Regimes von Herrn Putin“.

Das sind die wirklichen Ziele, die auch Steinmeier, die Merz-Regierung und ihre kapitalistischen Hintermänner verfolgen. Sie ziehen Europa in einen dritten Weltkrieg.

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