Erdbeben in Istanbul zeigt: Millionen Menschen sind in Gefahr

Das Erdbeben der Stärke 6,2 am letzten Mittwoch im Marmarameer vor der Küste des Istanbuler Stadtteils Silivri hat auf dramatische Weise gezeigt, dass die Stadt völlig unvorbereitet auf ein schweres Erdbeben ist, das hunderttausende Menschenleben gefährdet.

Wissenschaftler warnen schon seit langem, dass in der Region ein Erdbeben der Stärke 7 zu erwarten ist. Eine ähnliche Warnung wurde auch für die türkisch-syrische Grenzregion ausgesprochen. Am 6. Februar 2023 forderten zwei schwere Erdbeben mit Zentrum in Maraş offiziell mehr als 50.000 Menschenleben in der Türkei, in Syrien mehr als 8.000.

Das Erdbeben am Mittwoch ereignete sich in einer Tiefe von 7 Kilometern und dauerte 13 Sekunden. Laut Daten der Katastrophen- und Notfallschutzbehörde AFAD war es in Tekirdağ, Yalova, Bursa und Balıkesir sowie in Istanbul deutlich zu spüren. Nach dem Erdbeben wurden fast 200 Nachbeben verzeichnet, das stärkste davon erreichte eine Stärke von 5,9.

Menschen campieren im Freien, nachdem ein Erdbeben am Mittwoch Istanbul und weitere Teile der Türkei erschüttert hat. Aufgenommen in Istanbul, 24. April 2025 [AP Photo/ Khalil Hamra]

Es gab zwar weder Tote noch schwere Zerstörungen, doch nach dem Erdbeben kam es zu einer Massenpanik, die Kommunikationsinfrastruktur brach zusammen, das Verkehrssystem kam zum Erliegen, und es zeigte sich, dass die Sammelbereiche nicht ausreichend waren. Das alles ist ein klarer Beweis dafür, dass die Politik der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sämtlicher Parteien des kapitalistischen Systems Millionen Arbeiter in Gefahr bringen, weil sie die Warnungen von Wissenschaftlern ignorieren und dem Profit oberste Priorität einräumen.

Nach dem Erdbeben um 12:49 Uhr türkischer Ortszeit liefen die Menschen in vielen Stadtteilen Istanbuls aus ihren Häusern auf die Straßen. Da sie Schwierigkeiten hatten, sichere Sammelbereiche zu finden, begaben sich die meisten wahllos auf offene Flächen oder in gefährliche Bereiche. Manche sprangen in ihrer Panik aus großer Höhe, was zu mehr als 150 Verletzten führte.

Tausende strömten in Parks, Gärten und an Strände, und viele verbrachten auch die Nacht im Freien. Die Einwohner von Avcılar waren besonders beunruhigt. Ein Einwohner erklärte gegenüber NOW TV: „Es ist ein Wunder, dass Avcılar dieses Erdbeben überlebt hat, ohne dass ein Gebäude eingestürzt ist.“ In Esenyurt, einem Bezirk mit einer Million Einwohnern, verhielt es sich ähnlich. Viele flohen mit ihren Haustieren und ein paar Habseligkeiten auf die Grünflächen neben den Straßen.

Im Jahr 2021 erklärte die Stadtverwaltung von Istanbul unter Ekrem İmamoğlu (Republikanische Volkspartei, CHP), der letzten Monat unrechtmäßig verhaftet und inhaftiert wurde, dass bei einem als wahrscheinlich eingestuften künftigen Erdbeben in Istanbul 200.000 Gebäude mittelschwer bis schwer beschädigt würden und dass etwa drei Millionen Menschen betroffen sein könnten.

Trotz dieser enormen Bedrohung für das Leben von Millionen Menschen weigern sich die Erdoğan-Regierung und die bürgerlichen Parteien, staatliche Mittel zu mobilisieren, um die bedrohte Bevölkerung in sichere Unterkünfte zu evakuieren und die Stadt mit erdbebensicheren Gebäuden neu aufzubauen.

Die Sosyalist Eşitlik Grubu fordert die Enteignung der Vermögen, welche die Milliardäre unrechtmäßig durch die Ausbeutung der Arbeiter und durch Finanzspekulationen erworben haben, und die Verwendung dieser Mittel für die rasche Umsetzung von massiven öffentlichen Bauvorhaben.

Angesichts der anhaltenden Krise der Lebenshaltungskosten sind die Mieten in Metropolregionen wie Istanbul in die Höhe geschossen. Viele Arbeiter müssen in billigeren, alten und gefährlichen Gebäuden leben. Millionen von Menschen, die von einer Rente leben oder Niedriglohnempfänger sind, können trotz der Erdbebengefahr nicht umziehen, weil sichere Wohnungen unerschwinglich geworden sind.

Istanbul vom Çamlıca-Hügel aus gesehen, auf der asiatischen Seite des Bosporus [Photo by Alexxx Malev / undefined]

Wenn die Regierung und die örtlichen Behörden Projekte zur „Stadtumgestaltung“ durchführen, dann nur um die Reichen noch reicher zu machen. Während in Gegenden mit hohen Mieten Apartmenthäuser und Einkaufszentren gebaut werden, werden die Bewohner ärmerer Stadtviertel entweder weiter aus der Stadt gedrängt oder ihrem Schicksal überlassen. Während sicheres Wohnen zum Privileg wird, gehen Millionen von Menschen nachts mit Angst zu Bett.

Eines der am häufigsten genannten Probleme nach dem Erdbeben war der Mangel an Sammelbereichen. Ein Überlebender des Erdbebens fasste die Lage folgendermaßen zusammen: „Es gibt in Istanbul einen gravierenden Mangel an Sammelbereichen.“ Einwohner von Avcılar erklärten, es gäbe nur sehr wenige sichere, offene Plätze, wohin sie sich flüchten könnten.

Nach dem Marmara-Erdbeben im Jahr 1999 wurden die meisten der 470 ausgewiesenen Sammelbereiche in Istanbul nach und nach zur Bebauung freigegeben. Heute stehen auf mehr als 300 dieser Bereiche Einkaufszentren, Wohn- und Geschäftsgebäude.

Ein weiteres großes Problem war der Zusammenbruch der Kommunikationsinfrastruktur. Ein Betroffener erklärte gegenüber NOW TV: „Die Telefone fielen sofort aus... Wir konnten niemanden erreichen. Das Internet stürzte ab, die Netzwerke sind zusammengebrochen. Wir haben sehr lange gewartet.“

Experten zufolge war das Erdbeben nicht das große Beben, das in der Marmara-Region erwartet worden war. Der Geowissenschaftler Professor Dr. Naci Görür erklärte auf seinem Social-Media-Account, das Erdbeben habe sich auf der Kumburgaz-Verwerfung ereignet. Er erklärte weiter: „Dies war nicht das große Erdbeben, das wir in der Marmara-Region erwartet haben.“ Er betonte, dass solche Erdbeben die Belastung der Verwerfungslinie erhöhen und einen großen Bruch auslösen können. Görür erklärte, das erwartete Erdbeben werde eine Stärke von über 7 auf der Richterskala haben und warnte die Behörden und die Öffentlichkeit erneut.

Der deutsche Seismologe Oliver Heidbach betonte gegenüber der Cumhuriyet ebenfalls, dass das Risiko für Istanbul bestehen bleibt: „Für Istanbul kann es keine vollständige Entwarnung geben. Wir rechnen mit einem schweren Erdbeben in dieser Region, und das ist schon längst überfällig.“

Die Türkei hat im letzten Vierteljahrhundert zwei schwere, zerstörerische Erdbeben erlebt: das Marmara-Erdbeben am 17. August 1999 und das Maraş-Erdbeben am 6. Februar 2023. Laut offiziellen Zahlen starben 1999 mehr als 17.000 Menschen, und Hunderttausende wurden obdachlos. Daraufhin wurden neue Bauvorschriften erlassen, eine so genannte „Erdbebenmobilisierung“ ausgerufen und Steuern eingeführt. Doch in Wirklichkeit haben die Maraş-Erdbeben von 2023 schmerzlich deutlich gemacht, dass die Zentralregierung und die Kommunalverwaltungen nichts unternommen haben.

Laut einer Berechnung der Zeitung Evrensel „überstieg in der Türkei im Jahr 2024 die Gesamtsumme von Steuern und Verbrauchsabgaben, mit der die Ausgaben für Erdbeben finanziert werden sollten, den Geldwert von 15 Billionen Lira (etwa 500 Milliarden Dollar)“. Doch diese riesigen Beträge wurden nicht für den Bau erdbebensicherer Städte und Infrastruktur benutzt, sondern gingen an die Banken, Konzerne und die weitere Aufrüstung.

Die Regierung hat außerdem nach den Erdbeben von 2023 zusätzliche Steuern eingeführt. Doch zwei Jahre später hat sie viele der Versprechen in Bezug auf die rasche Bereitstellung von Wohnraum und soziale Unterstützung nicht erfüllt. In vielen Regionen wurde entweder mit dem Bau nicht begonnen oder bei den fertiggestellten Gebäuden fehlt eine angemessene Infrastruktur. Der Zugang zu den grundlegendsten Rechten wie Unterkunft, sanitäre Einrichtungen, Gesundheit und Bildung ist weiterhin ein ernstes Problem. Tausende von Erdbebenopfern kämpfen in Containerstädten immer noch um ihr Überleben.

Die herrschende Klasse und alle ihre Parteien interessiert es nicht, dass Erdbeben und ähnliche Naturphänomene Millionen Menschen gefährden. Die Arbeiterklasse hat daher keine andere Wahl als aktiv zu werden und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Der gesellschaftliche Reichtum, den die Arbeiter geschaffen haben, muss für den Aufbau des Sozialismus verwendet werden, eines Gesellschaftssystems, in dem die Menschen überall auf der Welt sicher und gesund leben können. Das Erdbeben vom 23. April sollte als nachdrückliche Warnung verstanden werden.

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