Die russische Oligarchie und die Politik der sozialen Katastrophe

Der russische Präsident Wladimir Putin (links) leitet eine Sitzung des russischen Sicherheitsrates im Kreml. Moskau, 21. Februar 2022 (Sputnik, Kreml Pool Photo via AP) [AP Photo]

Nach drei Jahren Krieg ist das Putin-Regime immer weniger in der Lage, die explosiven sozialen Folgen, die die inneren Widersprüche des russischen Kapitalismus verschärfen, noch unter Kontrolle zu halten.

Um die sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Kriegs zu überwinden, hofft Putin auf eine Einigung mit dem US-Präsidenten Donald Trump. Aber ohne gewisse Garantien, die es ihm ermöglichen würden, den Widerstand ultranationalistischer Kräfte und die Unzufriedenheit der russischen Arbeiterklasse zu verringern, ist er dazu nicht in der Lage.

Trump ist zwar an einem Abkommen interessiert, das es den USA ermöglichen würde, die Rohstoffressourcen der Ukraine und Russlands auf Kosten ihrer imperialistischen Rivalen in Europa auszubeuten. Allerdings wächst seine Unzufriedenheit darüber, dass Putin die Verhandlungen in die Länge zieht. Diese Spannungen werden nun durch einen globalen Handelskrieg noch verschärft.

Ein Friedensvertrag, selbst wenn er zustande käme, wäre höchstens ein Waffenstillstand auf Zeit, unabhängig davon, wie viele verbale Garantien und symbolische Aktionen ihn begleiten würden. Wenn die Arbeiterklasse nicht unabhängig eingreift, wird er unweigerlich zu einem neuen Krieg führen, der noch größer und barbarischer sein wird als der, der seit drei Jahren tobt. Darüber hinaus verschärft der durch Trumps Zölle ausgelöste globale Handelskrieg die politische und wirtschaftliche Instabilität sämtlicher kapitalistischer Regierungen und verstärkt den globalen Drang zum Krieg.

Um die Klassendynamik und den Ausweg für die Arbeiterklasse in dieser unbeständigen Situation zu verstehen, ist es wichtig, den aktuellen Zustand der Wirtschaft und der sozialen Beziehungen in Russland zu betrachten.

Was steckt hinter Russlands Wirtschaftswachstum?

Die letzten zwei Kriegsjahre haben in Russland zu einem Wachstum der Industrieproduktion geführt, das die „Friedens–Wachstumsrate“ vor der Pandemie übertraf. Viele Verteidiger des Putin-Regimes rechtfertigen damit seine reaktionäre Politik.

Am 7. Februar berichtete Premierminister Michail Mischustin Putin, dass die russische Wirtschaft im Jahr 2024 um 4,1 Prozent gewachsen sei. Dieses Wachstum wurde auf einen Anstieg der Industrieproduktion um 4,6 Prozent zurückgeführt, wobei das verarbeitende Gewerbe im Jahresverlauf um 8,5 Prozent wuchs. Im Jahr 2023 war das industrielle Wachstum um 4,3 Prozent gestiegen. Damit folgten zwei Jahre eines Industriewachstums von über 4 Prozent auf ein moderates Wachstum von 0,7 Prozent im Jahr 2022 sowie im selben Jahr ein um 1,4 Prozent geschrumpftes russisches BIP. Im Vergleich dazu war die Industrieproduktion in der Zeit seit der Krise von 2008 bis zur Pandemie mit einer durchschnittlichen jährlichen Rate von 3,2 Prozent angewachsen.

Das jüngste Wachstum basierte jedoch in erster Linie auf dem Wachstum der Militärausgaben und der Militärproduktion sowie der damit verbundenen Industrien. Somit beruht das industrielle Wachstum der russischen Wirtschaft auf der Produktion von Kriegs- und Zerstörungsmitteln. Tatsächlich herrscht in den nichtmilitärischen Wirtschaftssektoren eine allgemeine Stagnation oder sogar ein Rückgang – so in der Kohleindustrie oder bei den unrentablen Aktivitäten von Gazprom (dessen Nettoverlust sich 2024 auf 1 Billion Rubel, bzw. 10,6 Mrd. Euro, belief).

Das Zentrum für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognosen (gegründet vom derzeitigen Verteidigungsminister Andrei Beloussow) betont, dass die Rüstungsindustrie und das Wachstum der Konsumausgaben die wichtigsten Wachstumsfaktoren in den Jahren 2023 und 2024 waren. Darüber hinaus blieb der Binnenmarkt der einzige wichtige Motor der russischen Wirtschaft, während die russischen Exporte stagnierten und rückläufig waren.

Ein Wirtschaftswachstum, das auf Rüstungsproduktion und steigenden Konsumausgaben basiert, kann nicht lange bestehen. Die Abhängigkeit des Wirtschaftswachstums von diesen beiden Faktoren führt zu enormen Ungleichgewichten in verschiedenen Sektoren der russischen Wirtschaft und setzt die Gewinnspanne der Oligarchie enorm unter Druck. Darin liegt ein Grund für den Wunsch von Teilen der russischen Oligarchie, den Krieg in der Ukraine mit einem Abkommen zu beenden, das den Druck der Sanktionen auf das russische Kapital verringern würde.

Aktuelle Schätzungen der russischen Wirtschaft gehen bereits von einer zukünftigen Verlangsamung des Wirtschaftswachstums aus. Von der russischen Zentralbank befragte Analysten gehen für 2025 von einer Wachstumsrate von 1,6 Prozent aus, was unter der globalen durchschnittlichen Wachstumsrate liegen würde. Das Wirtschaftswachstum durch Krieg neigt sich also bereits dem Ende zu, und das herrschende Regime steht vor neuen Herausforderungen.

Das widersprüchliche Wesen des Lohnwachstums

Ein besonders auffälliges Phänomen dieser Kriegswirtschaft ist der rekordverdächtige Anstieg der Durchschnittslöhne in Russland. Allein im letzten Jahr sind die Durchschnittslöhne real um 9 Prozent gestiegen. Es wäre naiv zu glauben, dass das Lohnwachstum auf den Wunsch der russischen Wirtschaft oder des Putin–Regimes, das Leben der Arbeiterklasse zu verbessern, zurückzuführen sei.

Die beiden Hauptgründe für den Lohnanstieg sind der Ausbruch des Krieges in der Ukraine und der Arbeitskräftemangel in mehreren Sektoren der russischen Wirtschaft. Der Krieg in der Ukraine hat die Ausgaben des russischen Haushalts enorm in die Höhe getrieben: von 24,8 Billionen Rubel (263 Mrd. Euro) im Jahr 2021 auf 40,2 Billionen Rubel (427 Mrd. Euro) im Jahr 2024. Die Hauptausgaben flossen in den Ausbau der Armee und der Rüstungsproduktion (13,1 Billionen Rubel, bzw. 139 Mrd. Euro). Gleichzeitig hielten die Einnahmen nicht mit den Ausgaben Schritt, was in allen drei Kriegsjahren zu einem hohen Haushaltsdefizit führte: 3,3 Billionen Rubel (35 Mrd. Euro) im Jahr 2022, 3,2 Billionen Rubel (34 Mrd. Euro) im Jahr 2023 und 3,5 Billionen Rubel (37,2 Mrd. Euro) im Jahr 2025.

Um das Defizit zu decken, hat der russische Staat die Inlandsverschuldung erhöht und die Liquidität im Nationalen Wohlfahrtsfonds (NWF) um 64 Milliarden US-Dollar reduziert. Der NWF ist die wichtigste Reserve für Putins Regime im Falle schwerer Krisen. Bleiben die Ausgaben auf dem gleichen Niveau wie heute, wird der liquide Teil des NWF innerhalb eines Jahres erschöpft sein.

Wie sich zeigt, kam es vor allem bei den Sicherheitskräften und in der Rüstungsindustrie zu einem Lohnwachstum. Dies geht aus dem ungleichmäßigen Lohnwachstum in den verschiedenen Regionen Russlands eindeutig hervor.

Die führenden Regionen in der Fertigungsindustrie sind alle direkt mit der Rüstungsindustrie verbunden: Es sind die Oblaste Moskau, Tambow, Kaluga, Rjasan und Tula, die Oblaste St. Petersburg, Udmurtien und Uljanowsk sowie die Oblaste Kurgan und Swerdlowsk. Laut der Zeitung Nowyje Iswestija war besonders in der Region Kurgan, die stark von der Rüstungsindustrie abhängig ist, ein beeindruckendes Wachstum zu verzeichnen. Die Industrieproduktion stieg dort um 24,9 Prozent, das verarbeitende Gewerbe um 32,5 Prozent und die Produktion fertiger Metallprodukte um 203 Prozent.

Der kriegsbedingte Lohnanstieg in bestimmten Arbeiterkategorien und Regionen verstärkt die Ungleichheit im russischen Kapitalismus. Die ungleiche Entwicklung der Regionen wird durch die allgemeine Stagnation der zivilen Produktion noch verstärkt.

Nur in elf Regionen Russlands liegt das Durchschnittsgehalt über 100.000 Rubel (ca. 1.060 Euro). 26 Regionen erreichten nicht einmal den nationalen Durchschnitt (ca. 60.000 Rubel oder 636 Euro). Ein deutliches Lohnwachstum konnten allenfalls 44 Millionen Beschäftigte in der Rüstungsindustrie, in der ihr nahestehenden Schwerindustrie, in der Logistik und im Baugewerbe erreichen. Die restlichen 28 Millionen Menschen, von denen sehr viele im Gesundheits- und im Bildungsbereich arbeiten, sind aufgrund der raschen Inflation sogar ärmer geworden. Somit hat die allgemeine soziale Ungleichheit zugenommen. Die obersten zehn Prozent der Einkommensbezieher kontrollieren nun über 31 Prozent des gesamten Bareinkommens der Bevölkerung des Landes. Im Gegensatz dazu besitzen die unteren 10 Prozent nur 1,9 Prozent des Gesamteinkommens und leben von 150 Euro oder weniger im Monat.

In diesem Sinne sind die Worte von Sergei Smirnov, Doktor der Wirtschaftswissenschaften, bezeichnend:

Wenn das Lohnwachstum in bestimmten Branchen 24 Prozent beträgt und das BIP des Landes um 2 bis 3,5 Prozent wächst, ist das unmöglich. Oder besser gesagt, es kann vorübergehend passieren, aber es kann nicht über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden. Andernfalls werden alle Proportionen gestört. Infolgedessen gelangen all diese Löhne auf den Verbrauchermarkt und verschlechtern die Lebensqualität von Gruppen mit niedrigem Einkommen, denn diejenigen, die 24 Prozent mehr erhalten, kaufen nicht nur Autos oder Haushaltsgeräte, sondern auch Lebensmittel.

Was den zweiten Grund für das Lohnwachstum betrifft: Ein gravierender Arbeitskräftemangel ist seit langem ein strukturelles Problem des russischen Kapitalismus. Die Ursache liegt in der Abwanderung von Fachkräften, der demografischen Krise und der Zerstörung des Bildungssystems nach der Auflösung der Sowjetunion. Der Krieg in der Ukraine hat diese Tendenz erheblich verschärft. Ein Teil der männlichen Bevölkerung zog als Söldner in den Krieg oder wurde mobilisiert. Ein anderer Teil wechselte von der zivilen zur Rüstungsindustrie, was zu einem Abfluss von Arbeitskräften in besser bezahlte Branchen führte. Doch selbst unter diesen Bedingungen litt die Industrie weiterhin unter Arbeitskräftemangel.

Laut der Statistikbehörde Rosstat ist die Bevölkerung Russlands in den letzten fünf Jahren des Kriegs und der Pandemie rückläufig: um 1,43 Millionen im Jahr 2021, um 600.000 im Jahr 2022, um 495.000 im Jahr 2023 und um 596.000 im Jahr 2024. Insgesamt hat sich die Bevölkerung Russlands um 3,1 Millionen Menschen vermindert. Die Hauptgründe für diesen Bevölkerungsrückgang sind: 1) die hohe Sterblichkeit durch die Corona-Pandemie, die die Behörden seit Beginn des Krieges „vergessen“ haben; 2) der Krieg in der Ukraine; 3) die Massenemigration von Bürgern, die Angst vor der Mobilisierung oder vor Unterdrückung haben; 4) die verstärkte Abschiebung von Ausländern durch den Kreml.

Das Institut für Wirtschaftswissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften schätzte den Personalmangel im Jahr 2023 auf etwa 4,8 Millionen Menschen. Er wird sich im weiteren Verlauf des Krieges, der politischen Instabilität und der Verschlechterung der medizinischen Versorgung nur noch weiter verschärfen, was die ohnehin schwere Geburtenkrise weiter vertieft.

Die Situation im Kusnezker Kohlebecken

Die schlimme Lage, in der sich große Teile der russischen Arbeiterklasse befinden, zeigt sich besonders deutlich bei den Arbeitern der Inskaya-Mine im sibirischen Kusbass.

Seit sechs Monaten werden ihnen keine Löhne mehr gezahlt, und ihre Gesamtschulden belaufen sich auf etwa 65 Millionen Rubel (über 690.000 Euro). Es ist nicht das erste Mal, dass die Arbeiter gegen die Geschäftsführung protestieren und sich an die örtlichen Behörden wenden. Im Oktober 2024 traten sie bereits in einen Hungerstreik, und im Dezember 2024 legten sie erneut die Arbeit nieder. Trotz der versprochenen Hilfe des Staates werden die Bergleute jedoch von den Behörden und der Wirtschaft seit langem hingehalten. Darüber hinaus nutzen Militärkommissionen ihre Notlage aus und bieten den Bergarbeitern an, in der Ukraine in den Krieg zu ziehen, und versprechen ihnen dafür hohe Summen.

Inskaya, das im Kusnezker Kohlebecken (Kusbass) im Dorf Belowo liegt, ist nur eines von immer mehr Bergwerken, die die Kohleförderung eingestellt haben und ihre Arbeiter nicht mehr bezahlen. Die Gesamtverschuldung solcher Bergwerke beläuft sich auf 220 Millionen Rubel (2,3 Mio. Euro) und wird in naher Zukunft noch steigen.

Die aktuelle Krise der Bergwerke steht in direktem Zusammenhang mit den Sanktionen, die die Nato-Länder seit Kriegsbeginn verhängt haben, mit dem Rückgang der weltweiten Kohlepreise und der Unfähigkeit dieser Werke, auf dem Weltmarkt zu konkurrieren, wenn sie die Kohle nicht unter den Selbstkosten verkaufen wollen. Der Bilanzverlust der russischen Kohleproduzenten belief sich in den ersten elf Monaten des Jahres 2024 auf 68,7 Milliarden Rubel (etwa 732 Mio. Euro), wobei 53 Prozent der Unternehmen Verluste verzeichneten. Noch im Jahr 2023 hatten die Kohleproduzenten einen Gewinn von 400 Milliarden Rubel (4,25 Mrd. Euro) erreicht.

Die offensichtliche Schlussfolgerung, die russische Kapitalisten daraus gezogen haben, ist die völlige Missachtung der Arbeit der Beschäftigten, die in den Bergwerken weiterarbeiten und so den Betrieb am Laufen halten, selbst wenn sie keinen Lohn bekommen. Gleichzeitig gingen die schwächsten Bergwerke nacheinander in Konkurs, wodurch ihre Eigentümer viel Geld sparen und sich so ein Sicherheitspolster zulegen konnten.

Obwohl der Bankrott von Bergwerken und die Nichtzahlung von Löhnen an die Arbeiter mit den weltweit fallenden Kohlepreisen zusammenhängen, ist dies nur der schärfste Ausdruck der systemischen Krise in der russischen Kohleindustrie seit der kapitalistischen Restauration. Der Kohlebergbau ist einer der wichtigsten exportorientierten Rohstoffsektoren Russlands. Er wird in mehr als 20 Regionen des Landes betrieben und hat seinen größten Umfang im Kusnezker Kohlebecken, wo mehr als 50 Prozent der russischen Kohle gefördert werden.

Während der gesamten Regierungszeit Putins sind die Kohleproduktion und die Kohleexporte fast kontinuierlich gestiegen. Von 269,3 Millionen Tonnen im Jahr 2001 stieg die Kohleproduktion bis zum Jahr 2021 auf 432 Millionen Tonnen. Im gleichen Zeitraum haben sich die Kohleexporte von 41,7 Millionen Tonnen auf 210,5 Millionen Tonnen verfünffacht. Die Abhängigkeit der Kohleindustrie vom Exportwachstum wurde nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine deutlich, als die westlichen Länder ein Kohleembargo über Russland verhängten. Die Kohleindustrie musste ihre europäischen Exporte auf asiatische Märkte umlenken. Dies ist jedoch gescheitert. Während die Exporte 2022 und 2023 auf dem Niveau von 2021 blieben, sanken die Kohleexporte 2024 auf 195 Millionen Tonnen.

So sah sich die Kohleindustrie von 2021 bis 2023 mit einem stagnierenden Exportwachstum und 2024 mit einem Rekordeinbruch konfrontiert. Und die Wachstumskrise der Kohleindustrie wurde auf die Arbeiterklasse abgewälzt. Seither verfolgt die russische Oligarchie ein Programm von Stellenabbau, Lohnkürzungen und der Schließung unrentabler Bergwerke, was unweigerlich zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit in den Kohlebergbauregionen führt.

Die Situation der Bergleute in Kusbass ist nur der deutlichste Ausdruck eines allgemeinen Trends. Die Kohleindustrie ist zwar wichtig, leidet aber im Zusammenhang mit der Restauration des Kapitalismus seit langem unter strukturellen Problemen. Mit der Konzentration auf den Export sind die Auswirkungen des Kohlebergbaus auf die Umwelt völlig außer Acht gelassen worden. Darüber hinaus konzentrieren sich alle Gewinne aus dem Kohlebergbau effektiv in den Händen der Eigentümer von Kohleunternehmen und -minen sowie der lokalen und staatlichen Behörden. Infolgedessen ist Kusbass, der führende Kohhleproduzent und -exporteur, bezüglich der Durchschnittslöhne eine der ärmsten Regionen Sibiriens, trotz des hohen Wirtschaftswachstums der letzten zwei Jahre, und obwohl die Bergarbeiter in der russischen Wirtschaft eine wichtige Stellung einnehmen.

Inflation, und kein Ende in Sicht

Ein weiteres großes wirtschaftliches und soziales Problem ist die Inflation. Dieses Problem nahm im ersten Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie gravierende Ausmaße an. Ende 2021 betrug die offizielle Inflation in Russland 8,4 Prozent, 2022 stieg sie auf 11,9 Prozent, 2023 lag sie bei 7,4 Prozent und 2024 bei 9,5 Prozent. Die Preissteigerung bei Lebensmitteln, die die Armen am härtesten trifft, war sogar noch deutlich höher.

Am Anfang war die Inflation vor allem auf die Krise in den globalen Lieferketten und die Auswirkungen westlicher Sanktionen zurückzuführen. Später wurde sie durch Überhitzung infolge des Wachstums der Kriegswirtschaft weiter verschärft.

Die Behörden behaupten, dass die Ursachen der Inflation in einem übermäßigen Wachstum der Verbrauchernachfrage liegen, was ihrer Meinung nach unweigerlich zu einer Überhitzung der Wirtschaft und einem Preisanstieg geführt habe. Das Wachstum der Verbrauchernachfrage wird auch für den Arbeitskräftemangel und das Wachstum der Reallöhne verantwortlich gemacht. Wegen der Situation auf dem Arbeitsmarkt und dem starken Personalmangel ist es für russische Arbeiter einfacher geworden, für höhere Löhne zu kämpfen. Die Arbeitslosenquote in Russland liegt derzeit offiziell bei nur 2,4 Prozent. Unter solchen Bedingungen ist es für das Kapital schwierig, das Ansteigen der Löhne direkt zu untergraben.

Die Innenpolitik des Putin-Regimes ist daher voller Widersprüche. Um den Krieg zu führen, war der Kreml gezwungen, die Staatsausgaben enorm anzuheben und eine Politik der Haushaltsdefizite zu verfolgen, die durch Inlandsschulden und Reserven gedeckt wurden. Dies führte in Verbindung mit dem Arbeitskräftemangel zu Rekordlohnsteigerungen für die Arbeiterklasse im verarbeitenden Gewerbe sowie zu steigenden Einkommen für das Militär und seine Familien, während andere Teile der Arbeiterklasse verarmten. Steigende Löhne üben unweigerlich Druck auf die Profitrate aus. Das treibt die Kapitalisten dazu, mit Preiserhöhungen für Waren und Dienstleistungen zu reagieren, was zuerst die ärmeren Teile der Arbeiterklasse trifft und die Ausbeutung der Arbeiterklasse insgesamt verschärft.

Hinter den Aussagen und Maßnahmen zur „Abkühlung“ der Wirtschaft und zur Eindämmung der Inflation verbirgt sich der Wunsch der russischen Oligarchie, das Lohnwachstum zu stoppen. Sie wollen die Last der Krise auf die Arbeiterklasse abwälzen, indem sie durch hohe Zinssätze einen Teufelskreis aus Rezession und Bankrott auslösen. Auf diese Weise sollen die Kapitalisten dazu ermutigt werden, die Produktion zu drosseln, die Arbeitsintensität zu erhöhen und Entlassungen vorzunehmen.

Die Politik der russischen Zentralbank zielt darauf ab, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen und die Löhne zu senken. Die Politik der hohen Zinssätze (21 Prozent seit November 2024) zur Senkung der Inflation um 10 Prozent ist die Hauptmaßnahme des Putin-Regimes, um die Last der Krise auf die Arbeiter abzuwälzen. Gleichzeitig ist sie ein Versuch, einen wirtschaftlichen Rahmen zu schaffen, der es ermöglichen würde, den Krieg fortzusetzen und auszuweiten, falls es zu keiner Einigung kommt.

Angesichts des Arbeitskräftemangels und der allgemeinen wirtschaftlichen Stagnation der zivilen Produktion droht diese Politik eine echte soziale Katastrophe für die russische Arbeiterklasse heraufzubeschwören. Langfristig wird dies alle Schichten der Arbeiterklasse betreffen, unabhängig davon, ob sie in der militärischen oder zivilen Produktion beschäftigt sind. Die russische Regierung bereitet schon eine Änderung des Arbeitsgesetzes vor und will die zulässige Anzahl von Überstunden von 120 auf 240 verdoppeln. Gleichzeitig würde die Bezahlung von Überstunden erst ab der 121. Stunde erfolgen. Solche Änderungen würden es den Arbeitgebern ermöglichen, das durchschnittliche Arbeitsjahr effektiv um einen ganzen 13. Monat zu verlängern.

Der Ursprung der reaktionären Politik des Putin-Regimes

Die heutigen Probleme des Putin-Regimes sind das Ergebnis der katastrophalen Zerstörung der Sowjetunion durch die Restauration des Kapitalismus. Die gesamte Politik des Regimes zeigt, dass es nicht in der Lage ist, diese grundlegenden Probleme auf fortschrittliche Weise zu lösen. Der Bankrott des Putin-Regimes spiegelt den allgemeinen historischen Bankrott des russischen Kapitalismus und des gesamten kapitalistischen Systems wider.

Nach der stalinistischen Auflösung der Sowjetunion hat der russische Kapitalismus eine riesige Quelle billiger Rohstoffe für die imperialistischen Länder bereitgestellt. Nachdem die russische Oligarchie das sowjetische Staatseigentum geplündert und sich das Atomwaffenarsenal angeeignet hatte, setzte sie alles daran, sich selbst zu bereichern, indem sie die relativ billigen Arbeitskräfte der russischen Arbeiterklasse ausbeutete und die Rohstoffe exportierte. Gleichzeitig sorgte sie dafür, einen gewissen regionalen Einfluss und eine gewisse „Souveränität“ zu bewahren.

In der Praxis bedeutete dies die Demontage der sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution, die es in Form von Gesundheitsversorgung und Bildung sowie des allgemeinen Lebensstandards der Arbeiterklasse noch gab. Dies wurde in den 1990er Jahren generell durch die „Schocktherapie“ unter Boris Jelzin erreicht. Um ihre Stellung zu festigen, versuchte die neue herrschende Klasse sich als „gleichberechtigter Partner“ in das kapitalistische Weltsystem zu integrieren. Dies war die historische Rolle des Putin–Regimes.

Es wurde zur Hauptstütze der Vermögensbildung der russischen Oligarchie und damit zum Hüter der enormen sozialen Ungleichheiten in Russland. Als Putin im Jahr 2000 an die Spitze des russischen Staates aufstieg, gab es in Russland keinen einzigen Dollar-Milliardär. Im Jahr 2008 waren es schon 87. Im Jahr 2021 gab es ihrer 117, und heute ist ihre Zahl laut Forbes auf 146 angestiegen. Allein im vergangenen Jahr konnten die Oligarchen ihr Vermögen um 48,7 Milliarden Dollar steigern. Sie besitzen nun ein Gesamtkapital von 63,3 Billionen Rubel (ca. 680 Mrd. Euro), mehr als die gesamten Bankeinlagen des restlichen Landes. Die Aufgabe des Putin-Regimes bestand darin, die Interessen dieser Oligarchie auf Kosten der russischen Arbeiterklasse zu schützen.

Die Plünderung des sowjetischen Erbes führte zu einer noch größeren technologischen Rückständigkeit der russischen Industrie. Dies verstärkte noch die Notwendigkeit, Technologie aus stärker entwickelten Ländern zu importieren, um die soziale Stabilität aufrechtzuerhalten und das Funktionieren der Wirtschaft zu sichern. Das Anlagevermögen der Produktion wurde zunehmend aufgezehrt. Russisches und ausländisches Kapital wurde hauptsächlich in den Rohstoffsektor investiert, was sofortige Gewinne einbrachte. Das Problem der langfristigen technologischen Entwicklung war für die russische Oligarchie von geringer Bedeutung, denn sie war mit ihrer Position zufrieden und suchte, diese zu bewahren.

Infolgedessen hat sich Russland in hohem Maße von Importen fortschrittlicher Technologien aus den imperialistischen Ländern abhängig gemacht. Als diese durch Sanktionen unterbrochen wurden, musste Russland mehr auf Importe aus China zurückgreifen. Diese reichten jedoch nicht aus, um jahrzehntelange Investitionsmängel und die Importe aus den imperialistischen Ländern zu ersetzen.

Ein anschauliches Beispiel für das Abschreiben von Anlagevermögen ist die Krise des Güterverkehrs in Russland. Der Ukrainekrieg hat diese Krise noch verschärft. Früher wurde der Lkw-Bestand hauptsächlich durch Importe europäischer Fahrzeuge aufgefüllt, aber mit den Sanktionen änderte sich die Importstruktur hin zu chinesischen Lkw.

Heute steht der Transport vor einer schweren Krise, da seine Lkw-Flotte stark abgenutzt ist. Ein drastischer Rückgang der Importe um 89 Prozent zu Beginn dieses Jahres deutet darauf hin, dass russische Unternehmen ihre Flotten immer seltener erneuern, wobei das Durchschnittsalter ihrer Fahrzeuge mittlerweile bei 23 Jahren liegt. Gleichzeitig hat der Personalmangel im Güterverkehr laut Arthur Consulting 20 Prozent erreicht und nimmt weiterhin rapide zu.

Experten, die Forbes befragt hatte, ehe Trumps Zölle bekannt wurden, sagten für die nahe Zukunft einen Anstieg der Transportkosten um 20 bis 30 Prozent voraus. Dies bedeutet, dass weitere Preiserhöhungen, auch für Lebensmittel und lebenswichtige Güter, fast unvermeidlich sind. Und es ist eine weitere Widerlegung des Märchens der Oligarchie von einer durch hohe Verbrauchernachfrage verursachten Inflation.

Das Problem des Arbeitskräftemangels kommt hinzu. Er ist seit langem eins der Hauptmerkmale der demografischen Krise im Land, die eine direkte Folge der Restauration des Kapitalismus war. Zwischen 1994 und 2024 hat die Bevölkerung Russlands nie wieder ihren historischen Höchststand von 148,5 Millionen Menschen im Jahr 1993 erreicht, trotz aller Maßnahmen, die das Putin-Regime demonstrativ zur Verbesserung der demografischen Entwicklung unternahm.

Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist die Geburtenrate auf ein Rekordtief gefallen, was unweigerlich zu einer neuen demografischen Lücke führt, die den Arbeitskräftemangel in Zukunft noch verschärfen wird. Deshalb träumen die russischen Nationalisten von einem demografischen Bevölkerungsboom, der wie ein Wundermittel alle Probleme lösen würde.

Als Putin seine abenteuerliche Invasion der Ukraine startete, hatte er offenbar nicht damit gerechnet, dass sich der blutige Krieg über drei Jahre hinziehen und auf beiden Seiten über eine Million Menschenleben kosten würde. Der Krieg hat alle geopolitischen Widersprüche verschärft. Er hat die Aufrüstung der Nato beschleunigt, dazu beigetragen, die Ukraine mit Waffen zu überschwemmen, und die Position der Neonazis im ukrainischen Staatsapparat gestärkt. Darüber hinaus hat der Druck der Sanktionen auf die russische Oligarchie nicht nachgelassen, sondern nimmt weiter zu.

Bestimmte Vorteile der russischen Armee auf dem Schlachtfeld dürfen nicht überbewertet werden. Sie sind in erster Linie der inneren Krise des Selenskyj–Regimes zu verdanken, sowie auch der Neuausrichtung des US-Imperialismus auf China und den Nahen Osten. Selbst wenn eine Einigung erzielt wird, werden sich die inneren Widersprüche sowohl des US-amerikanischen als auch des russischen Kapitalismus weiter verschärfen. Für Russland geht jede Übereinkunft mit dem US-Imperialismus mit einer Öffnung wichtiger Teile seiner Rohstoffe für die Imperialisten einher, was die Angriffe der Oligarchie auf die Arbeiterklasse verschärfen wird.

Jede solche Einigung wäre zudem nur vorübergehend. Nicht nur würde die Aggression der imperialistischen Mächte gegen Russland und China fortbestehen, sondern sie würde sich auch in anderen Weltregionen verschärfen. Wenn keine Einigung erzielt wird, wird der Krieg in der Ukraine fortgesetzt, was bedeutet, dass die Militärausgaben auf dem gleichen Niveau bleiben oder steigen werden. In einem solchen Fall wird sich der repressive Druck des Putin-Regimes auf die Arbeiterklasse verschärfen. All dies wird mit einer neuen Welle nationalistischer und religiöser Propaganda und imperialem Chauvinismus einhergehen.

Perspektiven für die Entwicklung des Klassenkampfs in Russland

Die reaktionäre Politik des Putin-Regimes wirft daher ernste Fragen für die russische Arbeiterklasse auf. Zwei mögliche Perspektiven stehen ihr offen.

Bleibt die Macht in den Händen der Oligarchie, werden sich die Szenarien, vor denen die Arbeiterklasse steht, nur im Tempo der sozialen Katastrophe und des Krieges unterscheiden. Der imperialistische Drang, die Sowjetunion aufzuteilen und zu unterwerfen, wird nicht nur weiter anhalten, sondern sich noch beschleunigen, da die imperialistischen Mächte sich gleichzeitig auf einen Krieg mit China vorbereiten und untereinander um eine imperialistische Neuaufteilung der Welt kämpfen. Die Oligarchie, die selbst von rivalisierenden Fraktionen und Konflikten zerrissen ist, wird sich weiterhin der einen oder anderen imperialistischen Macht anschließen und gleichzeitig ihre Angriffe auf die Arbeiterklasse verstärken.

Die zweite Perspektive ist die einzige, die der russischen Arbeiterklasse einen Weg vorwärts weist: Sie basiert auf ihrer unabhängigen Mobilisierung im Kampf sowohl gegen den Imperialismus als auch gegen die russische Oligarchie und deren Politik der sozialen Katastrophe. Eine solche Mobilisierung ist nur auf der Grundlage des konsequentesten und revolutionärsten Programms des sozialistischen Internationalismus möglich, sowie auch in Zusammenarbeit mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern auf der ganzen Welt.

Die Entwicklung eines solchen Programms in der Arbeiterklasse erfordert einen kontinuierlichen Kampf für die Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins, für die Wiederbelebung der internationalistischen Traditionen der Oktoberrevolution und die Wiederherstellung der historischen Wahrheit über Leo Trotzkis Kampf gegen die stalinistische Degeneration der Sowjetunion.

Ein notwendiger Schritt für die russische Arbeiterklasse ist der Aufbau einer Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Russland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Nur so kann sie ihre Anstrengungen vereinen und sich mit der internationalen Arbeiterklasse zusammenschließen. Das Ziel besteht darin, die aktuelle Krise des Weltkapitalismus und die rücksichtslose und gefährliche Politik sowohl der imperialistischen Mächte als auch der russischen Oligarchie zu überwinden.

Loading