75. Berlinale - Teil 11

Vivian Qu's „Girls on Wire“ aus China: Ein zum Scheitern verurteilter Versuch, sozialen Realismus mit #MeToo zu verbinden

„Girls on Wire“ von Vivian Qu war einer der chinesischen Filme, die beim diesjährigen Filmfestival in Berlin im Wettbewerb standen. Es ist Qu's dritter Spielfilm. Ihr zweiter Film „Angels Wear White“ (2017), ist eine interessante Darstellung einer jugendlichen Wanderarbeiterin, die Zeugin eines sexuellen Übergriffs auf zwei Mädchen wird. Die Premiere dieses Films fiel mit dem Beginn der #MeToo-Kampagne in Hollywood und weltweit zusammen.

"Girls on Wire" [Photo]

Obwohl #MeToo in China zensiert wurde, wird Qu seitdem mit der Kampagne in Verbindung gebracht. In ihren öffentlichen Äußerungen hat sie mehrere Themen der Kampagne hervorgehoben, wie z. B. die Unterrepräsentation und Diskriminierung von Frauen in der chinesischen Filmindustrie.

Leider hat sich diese Ausrichtung stark auf ihren neuen Film ausgewirkt, der deutlich schwächer ist als „Angels Wear White“.

Im Mittelpunkt des Films stehen zwei Cousinen, Tian Tian (Liu Haocun) und Fang Di (Wen Qi), die in einer kleineren Stadt in China wie Schwestern aufgewachsen sind. Fang Dis Mutter wollte die Wiederherstellung des Kapitalismus durch die Kommunistische Partei Chinas seit 1976 nutzen, um eine kleine Textilfabrik zu betreiben, schaffte es aber nur, Schulden anzuhäufen. Ihr Bruder, Tian Tians Vater, ist drogenabhängig. Er scheint bei der Familie seiner Schwester nur zu leben, um sie finanziell auszunutzen und damit seine Drogensucht zu finanzieren. Früh fängt er an, seine junge Tochter zu manipulieren, um an Geld für mehr Drogen heranzukommen.

Der Film wechselt zwischen der Gegenwart und den Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit der Mädchen. Der Handlungsstrang ist recht verworren, lässt sich aber kurz wie folgt zusammenfassen.

Obwohl sie eine talentierte Schauspielerin ist, arbeitet Fang Di als Stuntfrau in Peking und ist dabei zermürbenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Sie verwendet den Großteil ihres Verdienstes, um die Schulden für Tian Tian und das gescheiterte Unternehmen ihrer Mutter zu begleichen. Später erfahren wir, dass ein Großteil dieser Schulden auf das rücksichtslose Verhalten des drogenabhängigen Onkels zurückzuführen ist. Tian Tian versucht schließlich, ihren Vater loszuwerden, indem sie die Polizei auf ihn ansetzt. Bei den Verhören gibt er die Namen einiger seiner Drogendealer preis. Um sich an Tian Tian zu rächen, entführt die Mafia sie und zwingt sie in die Drogenabhängigkeit (warum sie sich für diese Art von Rache entschieden haben, wird nie überzeugend erklärt). Tian Tian entkommt schließlich, aber nur, indem sie einen der Dealer tötet.

Jetzt ist die Mafia hinter ihr her, um sie „zurückzuholen“ (warum, ist auch nicht klar). Sie sucht Zuflucht bei Fang Di, nachdem die beiden fünf Jahre lang keinen Kontakt hatten. Fang Di hat zunächst den Eindruck, dass Tian Tian ihr Leben verpfuscht hat, und schickt sie weg. Dann jedoch erfährt sie von der Sucht der anderen jungen Frau, und dass Kriminelle hinter ihr her sind. Da macht sich Fang Di erneut auf die Suche nach Tian Tian, und sie fliehen zusammen. Es kommt zur Tragödie.

Was als interessante Darstellung der sozialen Realität in China nach der Wiederherstellung des Kapitalismus beginnt, entwickelt sich zu einer Mischung aus Melodram und Gangsterfilm. Die Darstellung der Ausbeutungsbedingungen in der Filmindustrie ist künstlerisch überzeugend. Es gibt auch bewegende Szenen darüber, wie die Kinder gemeinsam aufwachsen. Es gibt humorvolle Momente, in denen die Gangster versuchen, Tian Tian auf einem Filmset zu entführen. Doch was sollen wir über das gelegentliche Lachen hinaus aus dieser Szene oder der Nebenhandlung über das organisierte Verbrechen als Ganzes mitnehmen? Die Szenen mit den beiden jungen Frauen werden rasch melodramatisch und repetitiv.

Am problematischsten ist jedoch, dass die Charaktere kaum entwickelt sind. Tian Tian wirkt meist traurig und wie dem Untergang geweiht, und sie wiederholt mehrfach, dass sie anderen nur Unglück bringe. Fang Di ist in der Beziehung die Stärkere und das eigentliche Zentrum des Films, aber insgesamt erfahren wir erstaunlich wenig über sie. Abgesehen von der Beziehung zu ihrer Cousine, die ihr gesamtes Leben zu dominieren scheint, und dem Engagement für ihre Arbeit, weist ihr Charakter nur wenige klare Merkmale auf. Das ist bedauerlich, da beide Schauspielerinnen eindeutig sehr begabt sind.

Besonders enttäuschend ist die Darstellung des Vaters. Obwohl seine Drogensucht sich auf alle im Film negativ auswirkt, erfahren wir nichts darüber, wann und warum er mit dem Konsum begonnen hat. Normalerweise sehen wir ihn grinsend, wie er nach neuen Möglichkeiten sucht, um seiner Tochter und seiner Schwester Geld abzuluchsen. Infolgedessen erscheint er kaum mehr als ein Monster, das sich damit zufrieden gibt, alle in seiner Familie in den Abgrund zu ziehen, um seiner Sucht zu frönen.

Ihn als vielschichtige Persönlichkeit zu bezeichnen, wäre eine Übertreibung. Das Konzept der Sucht als sozial bedingtes Leiden scheint der Regisseurin Qu völlig fremd zu sein. Sie bringt offenbar für ihn kein Mitgefühl auf und hat keine Erklärung für sein Verhalten. Schlimmer noch, sie ist scheinbar nicht daran interessiert, ihn überhaupt zu verstehen. Eine solche Haltung einer Künstlerin gegenüber ihren Themen hat noch nie zu einem überzeugenden Werk geführt.

Die Botschaft des Films geht kaum über Plattitüden à la #MeToo hinaus: Die „Frauen“ sind unweigerlich Opfer, aber auch „stark“, und die Männer neigen unweigerlich dazu, schlecht oder böse zu sein. Mit Ausnahme von zwei einigermaßen positiven Darstellungen eines Ladenarbeiters und Fang Dis Kollegen und Freund werden alle männlichen Charaktere im Film sehr negativ dargestellt. Die Last der Arbeit und des Kampfes liegt, so unterstellt „Girls on Wire“, ausschließlich auf den Frauen, und alleine wären sie wohl besser dran. Das katastrophale Ende für Tian Tian in jungen Jahren ist nicht auf irgendwelche umfassenderen gesellschaftlichen Probleme zurückzuführen, sondern auf die verkommene Persönlichkeit ihres Vaters und dessen Entscheidungen.

In einem Interview erklärte Vivian Qu, dass ihre Hauptmotivation darin bestand, zu zeigen, wie „stark“ die Frauen sind, und dass sie „für ihre Freiheit kämpfen“. Solche Konzepte mögen in engen Kreisen der Oberschicht in den USA, Europa und China Anklang finden. Sie sind aber keine Grundlage, um unser Verständnis vom Leben und der Gesellschaft künstlerisch zu bereichern – nicht in China, und auch nicht anderswo. Leider ist „Girls on Wire“ trotz der talentierten Besetzung ein weiteres Symptom der schädlichen Auswirkungen der #MeToo-Kampagne und der ihr zugrunde liegenden Vorstellungen auf das Kunst- und Kulturklima der Welt.

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